Ralph Gleis, der neue Generaldirektor der Albertina, über die Kraft der Kunst, den Zauber eines 500 Jahre alten Hasen, seinen Traum von einem „Museum für alle“ – und was ihn persönlich bewegt.
Das Signature Piece der Albertina: „Der Feldhase“, gepinselt von Albrecht Dürer im Jahr 1502.
Antje Salvi: Herr Generaldirektor Gleis, Sie stehen seit Anfang 2025 in Wien einer der bedeutendsten Grafiksammlungen der Welt vor, können Sie nach dem Raub im Pariser Louvre noch gut schlafen?
Ralph Gleis: Aber natürlich. Unsere wertvollen Kunstwerke, fast 1,3 Millionen Objekte, viele über 500 Jahre alt und sehr lichtempfindlich, sind sehr sicher in einem zehn Meter tiefen Speicher untergebracht. Davon konnte ich mich bei einer Wartung der Anlagen gleich Anfang des Jahres überzeugen. Das ist dort schon beeindruckend.
Es sieht im Speicher ein bisschen aus wie im Reaktor-Schacht des Todessterns in Star Wars!
Vielleicht eher wie Amazon before Amazon. Das ist ein abgeschlossener Speicher, in dem ein Regalsystem eingebaut ist. Da liegen in Metallschalen die Kunstwerke drin, so 20 bis 30 Stück jeweils. Man gibt in den Computer das gewünschte Bild ein und ein Roboter bringt die Schublade zur Entnahmestelle. In den Speicher kommt man so schnell nicht rein, vor allem nicht raus.
Keine Angst vor Hackern?
Nein, das System ist autark und hat viele Notfallsicherungen.
Aber könnte ich die Kunstwerke im Zweifelsfall analog retten?
Ja, das wäre sogar wichtig, weil das Schlimmste, was passieren könnte, wäre ein Wassereinbruch.
... so im Jahr 2009 geschehen, weil es zu stark geregnet hatte. Damals mussten 950.000 Kunstwerke von Hand evakuiert werden.
Ja, genau, damals wurde der Roboter durch das Wasser lahmgelegt. Für den Fall eines Brandes gibt es Tanks mit Inergen, einem Sauerstoff verdrängenden Gas, das das Feuer durch Sauerstoffentzug erstickt.
Die Werke im Büro von Direktor Gleis stammen von der britischen Künstlerin SARAH MORRIS (*1967). Er ist großer Fan ihrer Arbeiten.
Links: Sunflower [Knots]
Rechts: Red Owl [Clips]
Apropos Dürers Hase. Jedes größere Museum der Welt hat ja sein Signature Piece. Der Louvre die Mona Lisa, das Neue Museum Berlin die Büste der Nofretete. Warum zeigen Sie in Wien nur ein Faksimile (Duplikat)?
Man muss zwischen Bewahrung von Skulpturen, Ölgemälden, Zeichnungen und Aquarellen unterscheiden. Ölgemälde sind weitaus robuster als Arbeiten auf Papier, die durch UV-Strahlen arg in Mitleidenschaft gezogen werden. Wir könnten das Original, das schon 500 Jahre alt ist, nicht dauerhaft zeigen, weil die Farben sofort verblassen würden. Nächstes Jahr, wenn wir unseren 250-jährigen Geburtstag feiern, holen wir den originalen Hasen aber aus dem Stall. Versprochen!
Und was macht nun das Häschen so ikonisch?
Es ist so lebendig dargestellt, dass es wirklich vom Blatt zu hüpfen scheint. Jedes Härchen seines Fells ist einzeln gezeichnet und man hat den Eindruck, man könne den flauschigen Hasen auf den Arm nehmen und knuddeln. Man fragt sich wirklich, wie Dürer das hinbekommen hat. Dann aber auch wieder diese Abstraktion, der Hase sitzt ja eigentlich auf einem leeren Papier ohne Umgebung. Das ist beeindruckend.
Sie haben in unseren Augen „die Prüfung bestanden". Ich habe Sie gerade Fragen gestellt, die vielleicht auch ein Kind hätte stellen können und es war Ihnen nicht zu lästig, sie mir geduldig zu beantworten. Ist das ein neuer Stil, den wir uns von Ihnen erwarten können. Eine Kunstvermittlung auf Augenhöhe?
Ja, tatsächlich. Ich möchte gerne eine „Albertina für alle“ und mich speziell auch an unsere jüngsten Besucherinnen und Besucher und deren Familien wenden. Unter dem Motto „Kids first!“ habe ich eine Kinder-Vernissage eingeführt, die noch vor der offiziellen Publikumseröffnung stattfindet. Wir begrüßen dabei die Jüngsten und ihre Begleitung direkt in der Ausstellung, anschließend gibt es eine interaktive Führung.
Ihre Eintrittspreise könnten für junge Menschen allerdings eine Hürde darstellen. Zwar ist der Eintritt unter 19 Jahre gratis, doch in Museen wie dem Louvre, den Uffizien in Florenz oder dem Prado in Madrid gilt das sogar für Studierende aus der EU und dem EWR bis 26 Jahre. In der Alten Nationalgalerie in Berlin zahlen Studierende nur acht Euro, in der Albertina hingegen das Doppelte. Wäre es da nicht klug, dem jungen Publikum den Zugang etwas zu erleichtern – schließlich sind sie die zahlenden Kunstfans von morgen?
Ich finde, wir sind im Gegensatz zu anderen internationalen Museen unserer Größe eher günstig. Im Haupthaus sind zeitgleich vier verschiedene Sonderausstellungen, die Dauerausstellung sowie die Prunkräume zu besichtigen. Pro Jahr zeigen wir bis zu 17 Ausstellungen und damit ein überaus vielfältiges Programm. Unter 19 Jahren ist der Eintritt frei, für unter 26-jährige und Seniorinnen und Senioren sind es 15,90 Euro. Ebenso Ermäßigungen gibt es mit 7 Euro für Besucherinnen und Besucher mit besonderen Bedürfnissen. Nicht zu vergessen unsere Jahreskarte mit zahlreichen Benefits. Selbst der reguläre Eintritt von 19,90 Euro ist günstiger als das billigste Ticket für ein Fußballspiel.
Wie kann man noch mehr Menschen für Kunst begeistern?
Das ist für jedes Museum eine schwierige Aufgabe und es gibt sicher kein Patentrezept. Wir arbeiten an neuen Formaten. Kunst und ein Museum dürfen auch Spaß machen. Ich möchte den Menschen Eindrücke, Erlebnisse und neue Gedanken ermöglichen. Dann ist Kunst am Puls der Zeit und wird auch das Publikum interessieren. Seien Sie gespannt: Im Rahmen unseres 250-jährigen Jubiläums haben wir viel Neues vor. Ich bin mir sicher, richtig vermittelt kann eine Zeichnung aus dem 16. Jahrhundert genauso anregend sein wie eine zeitgenössische Skulptur.
Weil uns Menschen, groß und klein, gebildet, weniger gut gebildet, immer dieselben Dinge bewegen: Liebe, Hass, Vergänglichkeit?
Es gibt die großen Fragen, die die Menschen immer umgetrieben haben: Woher kommen wir, wohin gehen wir? Wie soll eine Gesellschaft sein? Wie erlangen wir Glück? Auch die Angst vor Komplexität begleitet Fortschritt und Modernität seit jeher. Diese Fragen gehen wir derzeit zum Beispiel in der aktuellen Ausstellung „Gothic Modern“ nach.
Sind diese Ängste nicht eher neu?
Nein, ganz und gar nicht. So einen Modernisierungsschub wie jetzt gab es schon im 16. Jahrhundert und dann noch einmal im späten 19. Jahrhundert. Zeiten, in denen man sich gefragt hat: Braucht es mich noch angesichts der bahnbrechenden technischen Veränderungen? Was macht das mit mir, wenn die Welt sich so rapide ändert? Kunst gibt Auskunft über die Gesellschaft, ich lese Kunstgeschichte auch als ein gesellschaftliches Feld.
„Tröstlich, dass es immer schon Krisen gab, die wir Menschen gemeistert haben.“
Liebe, Sex, Tod, Trauer, Glaube, Zweifel – Themen, die Menschen durch alle Epochen bewegen. Die Ausstellung GOTHIC MODERN präsentiert rund 200 Meisterwerke vom Symbolismus bis Expressionismus und zeigt, wie mittelalterliche Kunst Künstlerinnen wie Van Gogh, Klimt, Schiele und Modersohn-Becker inspirierte. Zu sehen noch bis 11. Jänner 2026.
Nicht zuletzt an dieser aktuellen Ausstellung „Gothic Modern“ sieht man, Sie lieben themen- und gattungsübergreifende Präsentationen. Ich gebe zu, es ist etwas gewöhnungsbedürftig, einen Dürer-Stich neben einer Käthe Kollwitz-Zeichnung hängen zu sehen?
Das Nebeneinander ist sehr erhellend. Wir erkennen, dass verschiedene Epochen nicht nur im künstlerischen Sinne, sondern auch gesellschaftlich einiges verbindet. Ich finde es tröstlich zu erkennen, dass es immer schon Krisen gab, die wir Menschen gemeistert haben. Die Kunst aller Zeiten bot Lösungsmöglichkeiten und Visionen an, weil Künstlerinnen und Künstler die gesellschaftlichen Veränderungen wie Seismographen häufig zuerst erspüren und zu artikulieren vermögen.
Und Sie haben als Kunsthistoriker Lust vermeintlich Gesetztes in Frage zu stellen?
Ich sehe das geradezu als meinen Auftrag als Generaldirektor einer zeitgemäßen Albertina: multiperspektivisch zu sein, weil es die Welt auch ist und Lehrsätze, vermeintliche Wahrheiten, kritisch in Frage zu stellen. Ein Museum ist ein geeigneter Ort für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, ein gedanklicher Freiraum.
Davor fürchten sich gar nicht so wenige. Es existieren politische Bewegungen, auch in Österreich, die diese Freiheit einschränken wollen oder bereits einschränken, indem sie Kultur, Medien und Universitäten Gelder streichen, weil deren vermittelte Inhalte nicht genehm sind?
Es ist ja kein Zufall, dass in restriktiven Gesellschaften als erstes die Kunst und die Wissenschaften eingeschränkt werden, weil sie kritisch sind und Fragen stellen. Pluralität, Meinungsvielfalt und das Diskutieren verschiedener Gesichtspunkte sind die Basis für freie Demokratie.
Wir würden noch gerne etwas über Sie persönlich erfahren! Wie sind Sie zu Kunst gekommen?
Meine Eltern sind mit mir als Kind gerne in Museen gegangen, in meiner Heimatstadt, aber auch auf Reisen. Ich kann mich beispielsweise an einen Familienausflug in die Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen erinnern. Das fand ich als Kind sehr eindrucksvoll.
Haben Ihre Eltern beruflich mit Kunst etwas zu tun?
Das nicht, sie haben mir aber völlige Freiheit bei der Studienwahl gelassen. So habe ich Kunstgeschichte, Geschichte und Soziologie in Bologna, Köln und Münster studiert, wo ich aufgewachsen und geboren bin. Münster liegt nördlich von Düsseldorf und ist so groß wie Graz. Vermeintlich Provinz, aber dort gibt es die sogenannten „Skulptur Projekte“ ...
... eine internationale Kunstausstellung von Plastiken im öffentlichen Raum, die seit 1977 im Abstand von zehn Jahren stattfindet, parallel zu jeder zweiten documenta.
Damit kam die große weite Welt in die Stadt. Mit den beeindruckenden Werken internationaler Künstlerinnen und Künstler im öffentlichen Raum bin ich großgeworden – sie haben mich durchaus geprägt. Ein Treffpunkt meiner Kindheit waren zum Beispiel die bekannten „Giant Pool Balls“ von Claes Oldenburg am Aasee, Billardkugeln mit über drei Meter Durchmesser. Wir hatten als Kinder und Jugendliche keinen Begriff von deren künstlerischem Wert, es war einfach nur ein Place to be, da hat man sich getroffen. In der ganzen Stadt gibt es solche markanten Kunstorte, die in einer schönen Beiläufigkeit den Alltag bereichern.
Das stimmt, dieser Job ist ziemlich herausfordernd, aber es ist auch eine sehr schöne Aufgabe, die mich komplett ausfüllt. Es gibt viele Begegnungen mit interessanten Menschen, mit Künstlerinnen und Künstlern, mit Sammlerinnen und Sammlern, allgemein mit jenen, die sich mit dem Museum in der einen oder anderen Art verbunden fühlen. Dazu gibt es rund 300 Mitarbeitende. Für die Programmerstellung und das Tagesgeschäft muss ich zudem viel lesen und reisen. Ich mache das in jeder Hinsicht sehr gerne, diesen Job empfinde ich als absolutes Privileg.
Was tun Sie, wenn Sie sich mal nicht arbeiten?
Ich fahre gern mit dem Rad oder erfreue mich an einer Bergwanderung. Ich lese gern, auch durchaus mal Belletristik.
Liegen bei Ihnen gute Krimis auf dem Nachtkasterl?
Wenn mir jemand einen guten empfiehlt, lese ich den durchaus, aber eher im Urlaub.
Was lesen Sie aktuell?
Zurzeit beschäftige ich mich mit dem Buch „Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung“ von Philipp Blom aus der Serie „Auf dem Punkt" des Brandstätter Verlags. Darin geht es um neue Strategien des Denkens, damit Demokratie, Menschenrechte, evidenzbasiertes Denken im postfaktischen Zeitalter nicht verloren gehen.
Sie waren zuletzt Direktor der Alten Nationalgalerie in Berlin, Sie kennen Wien allerdings sehr gut. Von 2009 bis 2017 waren Sie Kurator im Wien Museum. Was gefällt Ihnen denn besonders an der Stadt?
Mhm, da fällt mir viel ein, aber ...
... vielleicht ist es Ihre Frau, die Wienerin ist, die Ihnen am besten an dieser Stadt gefällt?
Das kann ich nur unterschreiben. Schreiben Sie das genauso!
Ralph Gleis (*1973 in Münster), studiert Kunstgeschichte, Geschichte und Soziologie an den Universitäten Münster, Bologna und Köln und promoviert 2008 mit einer Dissertation über den österreichischen Maler Anton Romako. Von 2009 bis 2017 ist Gleis Kurator im Wien Museum. Anschließend leitet er die Alte Nationalgalerie in Berlin, ab 2022 wird er dessen Direktor. Seit 1. Jänner 2025 ist Gleis als Generaldirektor der Albertina in Wien.