Die französisch-britische Visionärin und Tech-Autorin Claire L. Evans ließ schon 2017 Künstliche Intelligenz für ihre Band YACHT komponieren – lange bevor das cool (oder gruselig) war. Statt im Quellcode wühlt sie heute lieber in der Gartenerde. Auf Einladung der Wirtschaftsagentur Wien eröffnete sie am 14. Mai die Creative Days Vienna.
Bei den Creative Days Vienna, die Teil des ViennaUP-Festivals sind, hat sie eine Rede über die Verbindungen zwischen Biologie, Technologie und digitaler Kultur gehalten – Themen, auf denen auch ihr journalistischer Fokus liegt.
Magdalena Willert: In welcher Lebenslage bist Du total analog?
Claire L. Evans: Ich mache mich gerne bei der Gartenarbeit schmutzig. Ich verwende keine Handschuhe, habe Dreck unter den Fingernägeln und trage ihn an meinen Schuhen ins Haus, ziehe mir Splitter ein und schere mich nicht um Insektenstiche.
Wie passen Biologie und Technik zusammen?
Das ist Definitionssache. Unser Tech-Verständnis ist heute sehr eindimensional, technisch geprägt von der Geschichte der Informatik als Industrie. Aber „Computing” ist viel mehr. Jedes Lebewesen tut das.
ChatGPT definiert „Computing“ so: Computing ist Verarbeitung, Verwaltung und Analyse von Informationen. Es umfasst eine Vielzahl von Aktivitäten, darunter Programmierung, Datenverarbeitung, Algorithmenentwicklung und die Verwendung von Softwareanwendungen zur Lösung von Problemen oder zur Automatisierung von Aufgaben. Du meinst mit Computing was anderes, oder?
Computing – oder besser: Informationsverarbeitung – betrifft alles Lebendige, das mit seiner Umwelt interagiert und damit Realität formt.
Hast Du ein Beispiel?
Nehmen wir einen Wurm. Er stellt einen einfachen Organismus dar, aber um zu überleben, muss er Umgebungsinformationen verarbeiten und speichern – Dinge wie Temperatur, das Vorhandensein von Nahrung und Fressfeinden. Wenn er auf der Grundlage dieser Informationen Entscheidungen trifft, ist das auch eine Form des „Computings“. Wir haben versucht, Computermodelle dieser grundlegenden Funktionen eines Wurmgehirns zu erstellen – das ist äußerst komplex und erfordert enorme Rechenleistung. Ein Wurm benötigt dafür fast gar keine Energie.
Claire L. Evans hat einen Wurm auf ihrem Computer installiert – und nein, das ist keine Metapher. Für ihren Artikel „The Worm That No Computer Scientist Can Crack“ im Wired Magazine im März 2025 tauchte sie tief in das OpenWorm-Projekt ein, das versucht, den mikroskopisch kleinen Fadenwurm C. elegans komplett zu simulieren. Mit seinem winzigen Nervensystem und nur 302 Neuronen könnte dieser Wurm der Schlüssel zu einem besseren Verständnis von Biologie und Technologie sein.
Was kann sich die Tech-Welt noch von der Natur abschauen?
Ameisenkolonien nutzen Algorithmen, die genauso wie unsere Internet-Datenrouting-Systeme funktionieren. Schleimpilze finden die effizientesten Wege durch unebenes Gelände. Davon kann unser Netzwerkdesign lernen. Je mehr wir über solche Organismen lernen, desto klarer wird: Vieles, was wir für menschliche Erfindungen halten, existiert in der Natur seit Millionen Jahren. Wenn wir unser Ego beiseiteschieben, können wir unglaublich viel von ihnen lernen.
Du wurdest atheistisch erzogen – welchen Einfluss hatte das auf Dich?
Keinen besonderen, wir haben nie über diese Art von Dingen gesprochen. Obwohl ich glaube, dass Kinder eine Art von Spiritualität brauchen. Also erfand ich meine eigenen Rituale, weil ich wusste, dass es da etwas Größeres gibt. Ich betete zum toten Hund meiner Großeltern, obwohl ich nicht mal wusste, was „beten“ heißt.
Wie bist Du aufgewachsen?
Ich war Einzelkind aus einer Einwandererfamilie in den USA. Meine Mutter war Französin, mein Vater Brite. Ich war eher eine Einzelgängerin. Ich kam nicht schlecht mit anderen Kindern aus, aber ich mochte es, allein zu sein. Ich erfand Geschichten oder starrte manchmal einfach nur an die Decke. Diese Langeweile war fast meditativ. Ich bin auch heute noch gerne allein.
Du hast KI als Tech-Journalistin und Musikerin so gut wie von Anfang an beobachtet. Du warst eine der ersten Künstlerinnen, die 2017 mithilfe von KI an einem Album gearbeitet hat. Wie hat sich Deine Wahrnehmung von KI im Laufe der Jahre verändert?
Als Sci-Fi-Fan dachte ich früher, KIs seien humanoide Roboter mit Bewusstsein. Als ich selbst damit arbeitete, habe ich verstanden, dass es sich nur um komplizierte Mathematik handelt. Ich habe durch Zufall in dem besonderen Moment des Übergangs mit KI herumgebastelt. Damals, als sie noch primitiv und interessant war. Man musste als Mensch eingreifen, um etwas Brauchbares zu bekommen. Diesen Gedanken fand ich tröstlich.
Ich glaube, es benötigt noch immer menschliches Eingreifen, um etwas interessant zu machen. Heute präsentieren sich diese Tools aber, als ob sie alles mit wenig User-Input könnten.
Macht Dir die technologische Entwicklung Sorgen?
Ja, ich habe gesehen, wie mit diesen Werkzeugen Sinnlosigkeiten gemacht wurden. Ich habe gesehen, wie Übel gerechtfertigt wurde, aber ich habe auch wunderbare Dinge gesehen. Ich bin kein Technikfeind – für mich ist Technologie eine Sprache.
Eine Sprache, die wir erst verstehen müssen?
Historisch gesehen hatten wir mehr Zeit, solche riesigen technischen Veränderungen zu begreifen, wie zum Beispiel die Fotografie, die ein Jahrhundert gebraucht hat, um ins Rollen zu kommen. Wir arbeiten in der Wissenschaft noch immer an Fragen wie: Was ist ein Foto? Was ist Wirklichkeit? Heute passieren diese Veränderungen rasant und konstant – zu schnell, um sie einzuordnen und begreifen zu können.
„Eines der ersten großen KI-generierten Bilder, die im Jahr 2015 entstanden, war Deep Dream von Google. Es hat diese Bilder generiert, die absolut verrückt und ekelhaft waren.“ (Wie man hier sehen kann ...) „Das System hat Bilder überidentifiziert, im Grunde wie ein umgekehrter Bildalgorithmus. Es fühlte sich so an, als ob eine andere Art von Bewusstsein oder Intelligenz diese Bilder erschafft. Hier sitzt kein menschliches Wesen hinter dem Steuer. Ich glaube, das ist ein Beispiel für eine besonders verrückte frühe KI-Sache, die jetzt für immer verloren ist.“
Die Produktion Eures KI-Albums habt Ihr dokumentarisch begleitet. Daraus entstand 2022 der Film „The Computer Accent”. Welchen Akzent spricht ein Computer?
Der Reiz der KI lag damals darin, wie schräg und unvorhersehbar sie war. Egal ob man Bilder, Text oder Ton generierte: Es fühlte sich immer so an, als käme es von einem Computer, mit diesem einzigartigen weirden Akzent. Ein Tonfall, der seltsam fremd klang. Aber dieser Akzent ist verschwunden. Es ist so, als hätte der Computer unsere Sprache viel flüssiger gelernt.
Konnte er damals nur stottern?
Eines der ersten großen KI-generierten Bilder, die im Jahr 2015 entstanden, war Deep Dream von Google. Es hat diese Bilder generiert, die absolut verrückt und ekelhaft waren. Es war ganz anders als alles, was ein Mensch jemals erschaffen würde, was ich unendlich fesselnd fand. Heute generiert KI nur mehr langweilige Stock-Fotos.
Du spielst seit über 20 Jahren gemeinsam in der Popband YACHT. Steht Ihr auf große Boote?
Nein. Der Name ist etwas peinlich – YACHT klingt nach Luxus. Er stammt aber von einem verfallenen Gebäude mit dem Schild „Young Americans Challenging High Technology“. Mein Partner, der die Band 2002 gründete, war von diesem rätselhaften, aber auch symbolischen Szenario so fasziniert, dass er die Band danach benannte.
Die Band YACHT wurde 2002 von Evans Partner Jona Bechtolt gegründet, 2008 wurde Evans als Lead-Sängerin Teil der Band. YACHT hat 2017 begonnen, mit Künstlicher Intelligenz an ihrem Album „Chain Tripping“ zu arbeiten. Sie haben KI-Modelle verwendet, um Texte, Melodien und sogar Cover-Designs mitzugestalten.
Sind Tech-Tools immer noch fixer Bestandteil Eurer Band?
Jein, nicht als Ludditen, sondern im Dialog, wir fragen uns, wie wir die Tools nutzen können, um Kunst zu machen, die größer als wir selbst ist. 2017 produzierten wir ein KI-Album. Auch die Lyrics, das Cover, die Videos und das Merch wurden mit KI erstellt. Das war ein einmaliges Experiment. Danach wollten wir keine „KI-Band“ mehr sein. Jetzt sind wir in einer „Post-KI“-Phase: Zurück zum Menschlichen!
Nutzt Du viel ChatGPT?
Nein, nie.
Warum?
Ich finde es nicht mehr interessant. Damals haben wir es verwendet, als es noch eher schlecht war. Ich fand es spannend, herauszufinden, wie ein maschinelles Lernsystem Eingaben interpretiert, die es nicht versteht, wie es all diese Variablen durcheinanderbringt und dir eine Vermutung darüber präsentierte, was es dachte, dass man will. Das waren Ideen, die einfach nur bizarr und sehr unmenschlich waren, aber auf ihre Art poetisch. Der Dialog zwischen dem Menschlichen und dem Unmenschlichen ist das, was mich an der Arbeit mit KI wirklich gereizt hat. Und jetzt sind diese Werkzeuge einfach zu gut.
Du bist Co-Autorin des Sci-Fi-Kurzgeschichtensammelbandes „Terraform“, der sich kritisch mit einer potenziellen nahen Zukunft auseinandersetzt. Wozu ist dystopische Science-Fiction gut?
Durch Fiktion reale Gefahren erkennen – und gegensteuern. Ich lese lieber über eine fiktive dystopische Zukunft, als dass ich eine solche tatsächlich erleben möchte.
„20 Jahre lang hatte das Internet eine Telefonnummer.“
2022 brachte Evans gemeinsam mit Brian Merchant den Sammelband „Terraform“ heraus. Evans hält regelmäßig Vorträge – sowohl bei Informatik-Messen als auch bei Musik-Festivals.
Welche Geschichte könnte Realität werden?
Tim Maughan beschreibt ein Szenario, bei dem aufgrund eines Handelskriegs die Produktion der iPhones in die Vereinigten Staaten zurückverlegt wird. Der einzige Weg, dies wirtschaftlich möglich zu machen, besteht darin, Gefängnisinsassen unsere Telefone bauen zu lassen. Es ist gleichzeitig eine Liebesgeschichte über einen Häftling, der versucht, sich in dieser Fabrik in ein Handy zu hacken, um eine Nachricht an seine Liebste zu senden.
Wie nutzt Du Technologie, also zum Beispiel Dein Handy, in Deiner Freizeit?
Schlecht, aber ich arbeite daran. Instagram tut mir nicht gut und ich lade es mir nur dann temporär herunter, wenn ich etwas für meine Arbeit posten muss. Danach wird es wieder gelöscht. Mittlerweile ist es mir auch nicht mehr wichtig, irgendwann ein Millionenpublikum zu erreichen. Am liebsten würde ich monatelang an einem Artikel arbeiten, bezahlt werden – und ihn dann ungelesen in der Schublade verschwinden lassen. Ich will durch meine Arbeit neue Dinge lernen. Einem Publikum gerecht zu werden, ist zweitrangig.
Davon handelt auch Dein TED-Talk im Jahr 2015: Du willst das „kleinstmögliche Publikum” – ist das immer noch Dein Mindset?
Absolut! Der beste Lifehack für kreative Arbeit: Nie darüber nachdenken, was andere wollen, sonst wird man verrückt.
Du hast ein Buch über Frauen verfasst, die Tech-Geschichte schrieben: Die Pionierinnen des Internets – Die unbekannte Geschichte der Frauen des digitalen Zeitalters. Warum?
Schlicht, weil ich nirgendwo Infos darüber finden konnte. Also fing ich an, nach ihren Namen zu suchen – oft standen sie nur in Fußnoten oder als fünfte Autorin irgendeines Papers. Je mehr ich mit diesen Frauen sprach, desto klarer wurde: Da gab es diese riesige unerzählte Geschichte. Frauen, die von Anfang an dabei waren, entscheidende Beiträge leisteten und dann ignoriert wurden. Ich sehe das Buch als eine Art Korrektiv.
Ihr Buch „The Broad Band – The Untold Story of the Women Who Made the Internet“ (2018) sieht Evans als Korrektiv einer bisher noch undokumentierten Geschichte von Frauen, die das digitale Zeitalter prägten. Sie erzählt von Frauen wie Ada Lovelace, der ersten Programmiererin, und Grace Hopper, die den ersten Computer-Compiler entwickelte. Ihre Arbeit zählt zu den „Top 10 der besten Tech-Bücher aller Zeiten“ laut The Verge im Jahr 2023 und zu den „Top 10 der besten Sachbücher im Bereich Technologie“ laut Inc. im Jahr 2018.
Inwiefern?
Vor dem Web, als das Internet noch eher akademisch oder militärisch genutzt wurde, gab es keine Suchmaschinen. Wenn man Informationen finden wollte, musste man die Telefonnummer des Stanford Network Information Center anrufen. Da saß eine Frau am Telefon, die als einzige wusste, wo welche Ressourcen verfügbar waren. Sie war Google, bevor es Google gab. 20 Jahre lang hatte das Internet eine Telefonnummer und wenn du anriefst, sagte dir eine verdammt kluge Frau, wo es langging.
Technik war also Frauenarbeit?
Oft. Frühe Programmiererinnen? Alle Frauen, weil Programmieren als „sekretariatsähnliche“ Arbeit galt, bis Männer es als wertvoll erkannten. Die Netzwerk-Infostelle? Informationen zu indexieren, galt als unwichtig, wie Ablagearbeit – bis Suchalgorithmen wertvoll wurden und Google ein Imperium darauf aufbaute. In jeder Tech-Ära gab es Frauen, die Dinge erfanden und verdrängt wurden, sobald ihre Erfindungen „wertvoll“ wurden. Das ist eine Lehre für alle Bereiche.
Wie könnten wir solche Muster durchbrechen?
Das ist das Interessante an KI: Sie basiert auf historischen Datensätzen, auf dem gesamten Korpus menschlicher Schöpfung. Das ist eine Chance, unsere Vergangenheit zu untersuchen: Wer sind wir? Was repräsentieren diese Daten? Wie können wir verhindern, dass wir dieselben Probleme wiederholen? Klar, die Menge ist überwältigend – aber ähnlich wie mit unserer Geschichte können wir sie analysieren oder blind in die Zukunft stolpern.
Dieser Beitrag entstand in freundlicher Kooperation mit der Wirtschaftsagentur Wien. Ein Fonds der Stadt Wien.
Claire L. Evans ist Schriftstellerin und Musikerin und beschäftigt sich dabei mit den Zusammenhängen zwischen Biologie, Technologie und Kultur. Sie schreibt unter anderem für das Grow, WIRED, MIT Technology Review, NOEMA und The Guardian. Sie ist die Sängerin der Grammy nominierten Band YACHT, die 2022 auch die Dokumentation The Computer Accent herausgebracht hat. Sie ist Co-Herausgeberin des spekulativen Sci-Fi-Formats Terraform und Autorin des Buchs: Die Pionierinnen des Internets – Die unbekannte Geschichte der Frauen des digitalen Zeitalters (Penguin, 2018), welches in sechs Sprachen übersetzt und zu einem der Top 10 Best Nonfiction Tech Books of All Time 2023 gekürt wurde.
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Am 14. Mai 2025 fand die Eröffnungsveranstaltung der Creative Days Vienna 2025 im The Hoxton Vienna statt. Dort eröffneten Claire L. Evans und Sean Bidder. Sie hielt eine Keynote über die Zusammenhänge zwischen Biologie, Technologie und digitaler Kultur.
Wann: 14. Mai, 18–22 Uhr
Wo: OPENING EVENT Creative Days Vienna 2025 mit Claire L. Evans und Sean Bidder im THE HOXTON VIENNA, Rudolf-Sallinger-Platz 1, 1030 Wien
Die Creative Days Vienna fanden 2025 am 14. und 15. Mai an unterschiedlichen Orten in Wien statt. Sie werden von der Wirtschaftsagentur Wien im Rahmen ihres Programms für Kreativwirtschaft organisiert.
Das vollständige Programm der Creative Days Vienna 2025 findest Du hier.
Sie sind Teil des von der Wirtschaftsagentur Wien initiierten Start-up-Festivals ViennaUP und bilden den Auftakt zu „Content Vienna“, dem Wettbewerb für digitale Gestaltung. An den zwei Tagen gibt es Vorträge, Führungen und Networking Events, um die Themen Technologie, Kultur und Gesellschaft.
Veranstaltungsorte:
The Hoxton Vienna, Rudolf-Sallinger-Platz 1, 1030 Wien
ORF-Funkhaus, Argentinierstraße 30A, 1040 Wien
Österreichisches Filmmuseum, Augustinerstraße 1, 1010 Wien
Creative Cluster, Viktor-Christ-Gasse 10, 1050 Wien