Die britische Biodesignerin Alice Potts verwandelt Körperflüssigkeiten in Kristalle und macht daraus poetische Kunst und Mode. Ein Gespräch über Tränenohrringe und eine Hot-Yoga-Class im Couture-Kleid.
Im Vergleich zu Tieren können Menschen schwitzen und so ihre Körpertemperatur regulieren. Diese Fähigkeit ermöglicht, körperliche Leistung über lange Zeiträume hinweg. Potts möchte Geschichten über Menschen erzählen – nicht nur über Äußerlichkeiten, sondern über harte Arbeit, Disziplin und Einsatz.
Elisa Promitzer: Du sammelst Schweiß für Deine Kunstwerke. Wie machst Du das?
Alice Potts: Schon die alten Griechen wussten, was gut ist: In Turnhallen gab es Schweißsammler, die Athleten mit Öl überzogen und mit einem kleinen Metallspatel, dem Strigil, den Schweiß abschabten. Wegen der angeblichen gesundheitlichen Vorteile wurde der Schweiß sogar für Make-up verkauft – und war mehr wert als Gold.Um meinen eigenen Schweiß zu sammeln, wollte ich nicht in die Sauna gehen,das war mir peinlich, also wickelte ich meinen nackten Körper in Frischhaltefolie ein – ein Trend aus den 90ern.
Im Kampfsport macht man das zuweilen vor dem offiziellen Wiegen, das vor jedem Wettkampf stattfindet, um Gewicht zu verlieren.
Mit anderer Intention, aber mindestens genauso viel Motivation, habe ich mir das beim Laufen und im Fitnessstudio angetan. Für ein Jahr schwitzte ich heimlich unter meinen Sportklamotten (lacht). Mit der Zeit entwickelte ich ein gebogenes Werkzeug, um den Schweiß an bestimmten Muskelgruppen abkratzen und über Wochen sammeln zu können.
„Was würde passieren, wenn man die Kleidung nicht wäscht?“
Projekte mit Sportlerinnen, Formel 1-Fahrerinnen oder in Zusammenarbeit mit den Olympischen Spielen stehen auf Potts Wunschliste, die leidenschaftliche Sportlerin ist.
Du arbeitest auch mit dem Schweiß anderer Menschen. Ekelst Du Dich manchmal davor?
Nein, er ist einer der intimsten und ehrlichsten Materialien, er zeigt, wer wir wirklich sind: ohne Filter, ohne Maske.
Stinkt er nicht?
Wir haben zwei Arten von Schweißdrüsen. Die einen sitzen an Handflächen, Füßen, Rücken und Armen – sie geben nur Wasser und Salz ab, völlig geruchlos. Damit arbeite ich. Die anderen, in Achseln und Haarfollikeln, produzieren Fette und Proteine. Wenn diese mit Bakterien reagieren, bildet sich der typische Schweißgeruch. Hier entsteht unser natürlicher Duft. Die Gesetze der Anziehung und insbesondere der Einfluss von Körpergeruch sind ein beliebtes Thema in der populären Wissenschaftsliteratur.
Inwiefern?
Immer wieder wird dabei eine Studie von Nickelt, H. und Föhrding, J. erwähnt, in der der Schweiß von vier Sexarbeiterinnen während und außerhalb ihres Eisprungs untersucht wird. Das Ergebnis: Während der fruchtbaren Phase verdienten sie im Schnitt doppelt so viel. Ursache sind vermutlich Pheromone – chemische Signale, die über Schweiß abgegeben werden und unser Verhalten beeinflussen.
Warum graust es uns dann davor?
Marketing-Genies haben uns Schweiß als etwas Negatives verkauft. Viele antworten auf meine Anfrage mit: „Oh, ich schwitze nicht.“ Dabei produziert ein Mensch allein an den Füßen pro Tag einen halben Liter Schweiß. Rund 70 Prozent des Wassers im Körper muss über Wasserlassen oder Schwitzen nach draußen. Es ist überlebensnotwendig.
Während der Pandemie nutzte Potts Schweiß, um biologische Veränderungen sichtbar zu machen. Bei einer Corona-Infektion färbte sich der Schweiß beim Kristallisieren und Einfärben mit Rotkohl rot.
Wie entstand Dein erster Kristall?
In der Londoner U-Bahn fielen mir weiße Salzflecken auf Kleidern auf. Was würde passieren, wenn man die Kleidung nicht wäscht, mehr schwitzt, den Schweiß stärker konzentriert und wachsen lässt? Meine Küche mutierte zum Labor und ein Jahr später konnte ich meinen ersten Schweißkristall bestaunen.
Erkläre mir bitte den Prozess!
Ich nehme den Schweiß und ein Kleidungsstück einer Person – sie passen wie zwei Puzzleteile zusammen, weil sie dieselbe „DNA“ haben. Zuerst kommt ein bisschen Schweiß der Person auf ihr Objekt, es wird sozusagen imprägniert – das ist wie ein „Samen“, aus dem später alles wächst. Den restlichen Schweiß trenne ich: Der besteht aus annähernd 60 Prozent Wasser und zehn Prozent Schmutz oder abgestorbene Hautpartikel. Letztere werden entfernt, bis nur noch eine kristalline Struktur übrig bleibt. Diese wird auf das Objekt der Person aufgetragen. Da die „Samen“ schon drin sind, wachsen die Kristalle von selbst – ganz ohne Klebstoff.
„Schweiß kann Strom leiten. Er enthält positive und negative Ionen. Ich wollte das testen und baute einen kleinen Stromkreis. Dabei habe ich aus Versehen fast halb Athen lahmgelegt. Ich schloss meinen Desktop-PC an, mit Elektroden in Eimern voller Schweiß. Anfangs funktionierte es sogar – der Computer sprang an. Doch weil Schweiß zu einem großen Teil aus Wasser besteht, kam es irgendwann zum Kurzschluss. Wasser und Strom sind bekanntlich keine gute Kombi, aber ein großartiges Experiment: Schweiß leitet tatsächlich Elektrizität.“
Interessierten Dich Wissenschaft und Experimente schon in jungen Jahren?
Seit ich denken kann, fasziniert mich die Geometrie der Natur. Nach der Schule studierte ich Psychologie, Chemie und Mathematik – Zahlen machen für mich mehr Sinn als Worte. Ich bin Legasthenikerin und akademisch aufgewachsen, aber meine Leidenschaft wurzelt auch in meiner nicht immer schönen Kindheit: Ich wurde gemobbt, war einfach weird. Alles, was ich wollte, war Menschen und die Welt zu verstehen.
Hilft Dir Schweiß die Menschen besser zu verstehen?
Ja, wenn ich Menschen verstehen will, dann wirklich – nicht nur oberflächlich. 2014 begann ich mein Fashion & Innovation-Studium am Royal College of Art in London, obwohl, Fun-Fact, ich davor noch nie genäht hatte. Ich war der notorische Freak in der Klasse, mich interessierten kein Glitzer und Pailletten sondern die textile Zweithaut. Zwei Jahre später fokussierte ich mich dann auf Biodesign, also auf die Herstellung von organischen Materialien.
Wo bist Du aufgewachsen?
Ich wurde 1992 in Leicester, einer 350.000 Einwohnerstadt in England, geboren. Mein Vater ist Kapitän auf Tankern, was bedeutet, dass wir dort lebten, wo er gerade stationiert war, und so kam es dazu, dass ich im Alter von zwei Jahren mit meiner Familie nach Japan zog. Vier Jahre später kehrten wir zurück nach Cambridge, wo mein Zwillingsbruder und ich zur Schule gingen. Zum Studieren zog ich nach London und während meines letzten Studienjahres bot mir die Onassis-Stiftung in Griechenland einen einjährigen Aufenthalt an. Aktuell lebe ich wieder in London.
Du hast auch eine Gucci-Tasche kristallisiert. Die Tasche kannst Du nicht am Körper tragen – wie wird sie imprägniert? „Wie ein Idiot ging ich mit ihr ins Fitnessstudio und rieb mich nach dem Workout mit ihr ab – anstelle eines Handtuchs."
Kannst Du Dich an Japan erinnern?
Wir lebten südlich von Tokio in Yokohama, etwas außerhalb der Stadt. Wenn der Alarm losging, war es ein Erdbeben, kein Feueralarm. Als wir nach Großbritannien zurückzogen, versteckten mein Zwillingsbruder und ich uns in der Grundschule jedes Mal unter den Tischen, wenn die Schulsirene für eine Brandschutzübung losging. Das sorgte für viel Verwirrung. Ich kann mich auch noch an unsere Schildkröte in der japanischen Vorschule erinnern, auf die ich eine Woche im Jahr aufpassen musste.
Selbstgezüchtete Kristalle kannst Du hoffentlich länger behalten! Wie beständig sind sie?
2017 kristallisierte ich drei hellrosa Ballettschuhe und färbte den dafür verwendeten Schweiß mit Rotkohl ein – noch heute leuchten sie in Rot, Lila und Grün.
Was steckt hinter den unterschiedlichen Farben?
Rotkohl ist ein natürlicher pH-Indikator. Er reagiert auf den Säuregrad der Flüssigkeit, mit der er in Kontakt kommt. Auch Schweiß kann sich im pH-Wert unterscheiden – beeinflusst durch Faktoren wie Hautflora, Ernährung oder Stress. Dadurch färbt sich Rotkohl unterschiedlich: Grün steht für einen eher neutralen pH-Wert, Lila für leicht sauer, Rot für stark sauer. Der pH-Wert ist bei gesunden Menschen meist leicht sauer, da die Haut diesen Säureschutzmantel braucht, um Bakterien, Pilze und Schadstoffe abzuwehren.
Du verwendest Schweiß, der beim Sport entsteht. Es gibt auch Angstschweiß – sieht man unter dem Mikroskop einen Unterschied? „Soweit ich weiß, nicht, außer dass hormonelle Veränderungen durch Stress den Schweiß beeinflussen können. Bei Tränen ist das anders: Jede Emotion zeigt eine andere kristalline Struktur.
Jeder Kristall lässt tief blicken …
… und ist einzigartig. Erstaunlich ist auch, dass männlicher Schweiß flache, weiblicher eher spitze Kristalle ergibt. Bei bestimmten Medikamenten kann man in den Ausdunstungen Toxizität nachweisen. Auch Zucker verändert den Schweiß: Bei kristallisierten Proben zeigen sich Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Diabetes, da Stoffwechselprozesse und Glukosespiegel die Schweißzusammensetzung beeinflussen können.
Schweiß erzählt persönliche Geschichten!
Ich bemerkte durch die Analyse meiner eigenen Kristalle, dass ich zu viel Zucker zu mir nahm – und stellte daraufhin meine Ernährung um. Mithilfe der Chromatographie konnte ich meinen Schweiß auftrennen und anschließend zentrifugieren, um die enthaltenen Partikel zu isolieren und zu bestimmen, welche davon Zucker waren. So entsteht eine sichtbare, grafische Referenz der chemischen Bestandteile.
Potts kristallisiert nicht nur Schweiß, sondern experimentierte auch mit Blut, Urin und Tränen. Jede Körperflüssigkeit hat eine andere Struktur: Blutkristalle sind eher würfelförmig – man muss dabei das Hämoglobin trennen, sonst wird alles klebrig. Urin bildet Kristalle wie Nierensteine – viel Kalzium, dafür mit strengem Geruch.
Du hast auch mit Tränen gearbeitet und daraus Kristallohrringe kreiert. Funktioniert das ähnlich wie mit Schweiß?
Viel schwerer. Tränen enthalten wenig Salz, und um die Kristallisierung zu starten, braucht man einen vorgefertigten Samen. Für seine Masterarbeit brachte ich den britisch-tschechischen Designer Matthew Needham neun Monate lang zum Weinen. Ich hatte zuvor bereits mit Blut und Urin experimentiert – Tränen fehlten noch. Sie sind anders: fragil, durchsichtig, fast lebendig und tragen ein Stück Seele in sich. Dass es beim ersten Versuch funktionierte, war reines Glück. Ich nutzte ein traditionelles griechisches Utensil, das in der Trauerarbeit verwendet wird. Mit einem kleinen Glasröhrchen werden Tränen der Trauernden gesammelt, um sie nach der Trauerphase symbolisch wieder freizugeben. Wir haben sie festgehalten ...
Dann bleiben wir lieber beim Schweiß! Was bringt Dich psychisch zum Schwitzen?
Ich litt an Magersucht und war zwischen dem 18 bis 21 Lebensjahr immer wieder im Krankenhaus – die Erinnerung daran macht mir noch heute zu schaffen. Essstörungen sind eines der schlimmsten Dinge, die man erleben kann. Ich hatte Glück, nie einen Rückfall zu erleiden. Vielleicht habe ich deshalb angefangen, nach innen zu schauen. Diese Jahre im Krankenhaus haben mich isoliert. Ich hatte Schwierigkeiten, die Welt zu begreifen: Während andere Erfahrungen sammelten – feiern, trinken, Grenzen austesten –, lernte ich zu überleben.
Was würdest Du Deinem jüngeren, unsicheren Selbst sagen?
Just don’t give a shit. Ich habe mittlerweile Lehraufträge am Central Saint Martins in London, an der London School of Fashion und sogar an Universitäten in China. Sei ehrlich zu dir selbst. Konzentriere dich nicht auf Trends, sondern auf das, was du gut kannst.
Aktuell wird im Barbican Centre in London eine Auftragsarbeit von ihr gezeigt. Die Ausstellung „Dirty Looks: Desire and Decay in Fashion“ läuft noch bis 25. Jänner 2026.
Das hat sich ausgezahlt: Aktuell findet man Deine Arbeit im Museum in London!
Ein kristallisiertes Kleid von mir wird im Barbican Centre in der Ausstellung „Dirty Looks: Desire and Decay in Fashion“ bis Jänner 2026 gezeigt. 120 Outfits von 60 Designerinnen, von Designerstars wie McQueen bis Rick Owens – nur sechs Auftragskünstlerinnen sind dabei, und eine davon bin ich. Mein Stück stammt von Madame Grès (*1903) alias Alix Grès, einer französischen Couture-Designerin, die in den 90ern starb. Wüsste sie, dass jemand ihr Kleid mit Schweiß „beschmutzt“ hat, würde sie wahrscheinlich ausflippen.
Du hast selbst in diesem Couture-Kleid geschwitzt?
Ja genau. Ich besuchte dafür eine Hot-Yoga-Class außerhalb von London, wo mich garantiert niemand je wiedersehen wird (lacht).
Du hast in der Abendrobe geturnt? Hat zumindest mehr Stil als Yoga-Leggings!
Und das bei über 30 Grad Raumtemperatur – Beine hoch, Augen zu und durch! Das Kleid wurde für zierliche Frauen designt – mein Rücken passte kaum hinein. Ich bin eher das Bodybuilding-Girl. Normalerweise imprägniere ich Objekte, die ich im Zweifelsfall ersetzen kann. Dieses Kleid gibt es nur einmal. Meinen Stresslevel kannst Du Dir vorstellen.
„Hinter meinen kristallisierten Ballettschuhen steckt noch eine andere Ebene: Wenn man sie sieht, denkt man an perfekte, grazile Tänzerinnen. Doch die Frauen, denen sie gehören, entsprachen nicht diesem Ideal – eine war übergewichtig, eine wurde wegen ihrer Herkunft nie als „schön“ wahrgenommen, eine war sehr klein. Jede von ihnen war auf ihre Art wunderschön. Das wollte ich zeigen: Wahre Schönheit ist nicht genormt. Reiner als der physische Schweiß meines Körpers kann ich buchstäblich nicht werden.“
Die obligatorische Frage: Wie siehst Du die Zukunft von Mode?
Es braucht einen Wandel. Viele biobasierte Materialfirmen mussten schließen, und Modemarken sind durch Greenwashing-Vorwürfe verunsichert. Neben meiner Kunst, arbeite ich Vollzeit beim Biotech-Unternehmen „Monsynthesis“, wo wir Bakterien und Nanocellulose zu einer lederähnlichen Alternative züchten. So kann ich direkt daran mitwirken, neue Materialien für die Modeindustrie zu erforschen – ohne eine „Schweißfabrik“ besitzen zu müssen. Nachhaltige Innovation kann poetisch sein.
Trägst Du Deine Schweißobjekte auch selbst?
Schmuck aus meinen Kristallen habe ich zwar, trage ihn aber selten, da er sehr empfindlich ist. Gerade beginne ich mit einem Silberschmied zusammenzuarbeiten, um tragbaren Schmuck herzustellen. Ein Highlight war der Verlobungsring meines Zwillingsbruders, den ich aus seinem Schweiß fertigte. Und ich arbeite aktuell an kristallisierten Turnschuhen.
Diese Idee zu vermarkten wäre bestimmt ein Bestseller! Eine Kundin hättest Du schon …
Wer weiß, was die Zukunft bringt. Im Moment bin ich froh, wenn ich in meiner begrenzten Freizeit meinem größten Hobby, dem Sport, nachgehen kann – und meiner großen Leidenschaft: Menschen zu treffen. Vielleicht hole ich dabei auch ein bisschen das nach, was ich als Jugendliche verpasst habe.
Alice Potts (*1992, @alicenapotts) ist eine britische Biodesignerin und Materialforscherin. Sie absolvierte 2018 ihr Fashion & Innovation-Studium am Royal College of Art in London und hat Lehraufträge an Institutionen wie dem Central Saint Martins und der London School of Fashion. Artikel über sie erschienen international u. a. in der VOGUE, im Clôt Magazine, dem SZ-Magazin und sie wurde in der Liste „Top 22 biomaterial designers to watch in 2022“ von Material Source genannt. Ihre Arbeiten wurden in internationalen Ausstellungen gezeigt, darunter im Rahmen der Onassis Foundation in Athen.