Das Einhorn

Wild und unzähmbar

Ein mittelalterlicher Mythos besagt, dass das Einhorn sich nur einer Jungfrau zeigt. Diese platziert man der Sage nach allein an einer Waldlichtung, bis ihr das magische Wesen in den unberührten Schoß springt. Wir sprechen mit der deutschen Expertin Julia Weitbrecht über ein Tier, bei dem sich viele nicht sicher sind, ob es wirklich existiert.  

Text: David Meran

The Lady and the Unicorn by Luca Longhi (1507-1580)

„Vom christlichen Motiv zum Symbol der Queer-Bewegung."

David Meran: Liebe Frau Weitbrecht, was hat Ihre Faszination für Einhörner entfacht? 

Julia Weitbrecht: Ich schicke voraus, ich war in meiner Jugend kein Pferdemädchen! In meiner Generation waren die Kinderzimmer auch noch frei von pinken Einhörnern  und Co. Geweckt wurde mein Interesse durch die Beschäftigung mit religiösen Symbolen und Tieren. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass es da vor Einhörnern nur so wimmelt. Sie finden sich als Begleiter von Heiligen oder in Darstellungen der sakralen Einhornjagd wieder, welche die jungfräuliche Empfängnis symbolisiert. Da bin ich neugierig geworden. Die Faszination hält bis heute an.

In jedem gut sortierten Spielwarengeschäft gibt es Einhörner in Form von Kuscheltieren, Luftballons, Aufklebern, vom Regenbogenhorn bis zum Pferdeschweif. Warum ist dieses Fabelwesen immer noch so populär? 

In unserem Buch „Das Einhorn. Geschichte einer Faszination“, das ich mit Bernd Roling 2023 herausgegeben habe, zeigen wir, wie sich das Bild vom Einhorn wandelt: aus der Wunderkammer ins Kinderzimmer, vom christlichen Motiv zum Symbol der Queer-Bewegung. Das Einhorn fasziniert die Menschen seit jeher. Während es sich heute als fantastisches Motiv auf T-Shirts tummelt, bestand in der Antike und im Mittelalter kein Zweifel an seiner Existenz. Bei allem Wandel gibt es eine Eigenschaft, die durch alle Jahrhunderte bleibt: Das Einhorn lässt sich weder fangen noch zähmen!  

Das trägt zur Faszination bei und lässt viel Raum für Imagination!

Die Fantasie macht selbst vor der akademischen Forschung nicht halt. Es gab kürzlich einen Fund einer steinzeitlichen Antilope in Sibirien. Diese hatte ein Horn auf der Stirn oder zumindest einen verdickten Stirnfortsatz. Die Medien titelten: „Lebten Menschen mit Einhörnern zusammen?” Da bestand offensichtlich der Wunsch, wir hätten in der Steinzeit Seite an Seite mit Einhörnern zusammengelebt. 

 „Einhorn-Sprays um 249 Euro“

Gibt es Einhörner?

Es gibt keine Einhörner, das kann ich Ihnen als Wissenschaftlerin mit hundertprozentiger Sicherheit zusagen (lacht). Auch wenn man in antiken naturkundlichen Quellen wie den „Indika“ des Ktesias oder der „Historia naturalis“ von Plinius des Älteren nach den damaligen Standards wissenschaftlich erklärt bekommt, wo sie leben, wo sie beheimatet seien, wie sie sich ernähren oder wie man sie jage. Menschen im späten Mittelalter, im 15. und 16. Jahrhundert, begegneten Einhörnern angeblich auch auf Pilgerreisen ins Heilige Land. Nun ist es nicht so schwer, ein Einhorn zu sichten, wenn man es irgendwo erkennen möchte. In der Ferne kann man schnell eine Antilope oder ein Nashorn für ein solches halten.  

Fake News!

Mich fasziniert dabei, wie Aussagen von Autoritäten und Wissensvermittlung über mehrere Quellen hinweg die subjektive Wahrnehmung prägen und vermeintliche Fakten schaffen: Das Einhorn muss existieren! Das ist sicherlich ein Punkt, der nicht nur für das christliche Mittelalter bedenkenswert ist, sondern auch für unsere heutige Zeit, in der Fake News ein Problem darstellen. 

„Esoterisches ist mir fremd!"

Menschen kommunizieren in postpandemischen Zeiten mit ihren „Spiritual Animals“, laden sich Astro-Apps auf das Handy und legen sich Kristalle zur Abwehr schädlicher Strahlen in die Wohnung. Wir leben in einer Welt der Realitätsflucht und verweigern wissenschaftliche Fakten. Ideale Umstände für das Einhorn-Revival?

Perfekte Bedingungen sozusagen. Unter vielen Esoterikern wird angenommen, dass diese Tiere tatsächlich existieren, das gehört in die Kategorie Engelsglauben oder Totemismus. Sei's drum. Was ich erschreckend finde, ist, wie viel Geld mit diesem Glauben gemacht wird. Vor einigen Jahren konnte man auf Astro TV ein „Einhorn Super Set XXL“ inklusive Ritualzubehör und Einhorn-Spray kaufen, mit dessen Hilfe die Fabeltiere aus dem Reich der Legenden wieder zurück in unseren Alltag kommen und jenen „zum Leuchten bringen“. Und das für den ungeheuren Betrag von 249 Euro. Dass mit dem Einhorn und dem Wunsch nach dem Heilsversprechen ein solcher Profit gemacht wird, ist für mich verstörend. Sicherlich auch, weil mir persönlich das Esoterische fremd ist. 

Auf welche Weise wurden Einhörner im Laufe der Geschichte in der Kunst dargestellt. Selbst im Petersdom in Rom befindet sich die Darstellung eines Einhorns, das Jesus Christus symbolisiert?

Für die Veranschaulichung von so etwas Abstraktem wie der jungfräulichen Empfängnis, also Schwangerschaft ohne Geschlechtsverkehr, wird die Jagd auf ein Tier, das Einhorn, hergenommen, das symbolisch für Jesus Christus steht. Diese heute seltsam wirkende Verbindung von Naturkunde und religiöser Symbolik war für mittelalterliche Christen gang und gäbe. Die reine Jungfrau Maria empfängt, indem sie es auf den Schoß nimmt und das Horn festhält. Die Zähmung und das Einfangen des scheuen Tiers durch Maria werden in der religiösen Symbolik als Menschwerdung Christi gedeutet.  

„Anmutiges, hübsches, schön gekämmtes Tier"

Unterhalten Sie sich mit mir über ein wunderbares Bild im Kunsthistorischen Museum in Wien! Der Italiener Moretto da Brescia malte um 1530/1534 das Bild „Hl. Justina, von einem Stifter verehrt“. Erraten Sie, warum das Bild bei den Besucherinnen so beliebt ist ...

... ein Einhorn wohnt der intimen Szene bei! Es ist ein sehr anmutiges, hübsches, schön gekämmtes Tier, einem Pferd sehr ähnlich.  

Daniel Uchtmann, Kunsthistoriker und Leiter der Kunstvermittlung am Kunsthistorischen Museum in Wien, interpretierte es mir gegenüber so: Es erscheint so gezähmt, weil die heilige Justina über die Wildheit des Tieres gesiegt hat. Sehen Sie, das phallische Horn zeigt direkt auf ihre Körpermitte, zu ihrer Scham. Die sexuelle Interpretation liegt auf der Hand. Einhörner wurden in der Renaissance übrigens, wie hier, Pferden immer ähnlicher, das Fabelwesen verband sich mit dem allgegenwärtigen Nutztier, potenzielle Einhörner überall ...

... Morettos Einhorn ist aber, wenn Sie genau hinsehen, anders als ein Pferd, ein Paarhufer. So wie ein Ziegenbock zum Beispiel. Das entspricht ganz den Darstellungen der mittelalterlichen Heraldik. Bei den Wappen, Teppichen oder Bildern der Adelskultur verwendet man das Einhorn als Repräsentationstier für Hof und Herrschaft. Pferdeähnlichkeit ja, aber es bleiben die Attribute der Wildheit, strubbelige Mähne und der Bart. Solche Attribute sieht man beispielsweise beim berühmten Einhorn im Wappen Schottlands. Hier scheint mir das Tier als Symbol der Jungfräulichkeit der Märtyrerin aufzutreten – die es auch mit seinem furchterregenden Horn zu verteidigen bereit ist! 

„Das Einhorn, bringt die Erlösung von den Sünden."

Gibt es Mythen oder Legenden über Einhörner, die Sie besonders faszinierend finden? 

 In einigen Quellen finden sich Erzählungen, dass das Einhorn mit seinem heilkräftigen Horn auch Wasserquellen reinigt und alle Tiere vor Vergiftungen beschützt. Ich würde aber auch hier vermuten, dass der Ursprung oder zumindest diese Ausdeutung christlich ist. Christus, das Einhorn, bringt die Erlösung von den Sünden. Es gibt den berühmten Wandteppich „Der Fund des Einhorns” (Südniederländisch, 1495–1505), der im Metropolitan Museum (The Cloisters) in New York hängt. Dieser zeigt das kniende Einhorn vor einem Brunnen, umringt von Tieren, das sein langes, gewundenes Horn in ein darunter fließendes Bächlein taucht und es so vom Gift reinigt. 

Im Kunsthistorischen Museum in Wien gibt es einen Trinkbecher aus einem Narwalhorn um 1600. Es wurde als Einhorn verkauft. Wenn man aus so einem Becher trinke, so der Mythos, sei man gegen Gift immun ...

Das passt zu der Geschichte. Die sogenannten Wunderkammern der Zeit waren voll mit Narwalzähnen, das ist ein Stoßzahn des männlichen Wals, der im arktischen Ozean heimisch ist. Das ist eigentlich ein Eckzahn des Oberkiefers ...  

„Die Zukunft gehört einer Armee von bunten Einhörnern!“

Wie sieht das Einhorn der Zukunft aus? Im Bild von Moretto da Brescia wirkt das Einhorn – trotz Phallus am Kopf – eher feminin und sanft, genderfluid irgendwie. War Moretto seiner Zeit voraus, denn heute gilt das Fabelwesen als Symbol der queeren Bewegung.

Für mich gehört die Zukunft einer Armee von diversen Einhörnern aller Couleur! Das Einhorn der Gegenwart steht für Grenzüberschreitung, Verspieltheit, Wildheit und Freiheit. Das macht mir Spaß! Das Tier kehrt in seine vormoderne Vielgestaltigkeit, als Maskottchen der Pride etwa, zurück. Es ist nicht nur das hübsche, anmutige Einhorn mit den großen Augen, den Idealmaßen und weißem Fell, sondern es gibt es in allen Ausformungen – moppelig, schlank, bunt und regenbogenfarbig und mit Glitzer. Hier passiert im positiven Sinne die semantische Ausbeutung des Einhorns, welches immer schon eine gewisse Uneindeutigkeit mitbrachte, ob es nun existiert oder nicht.  

Wenn Sie einem Einhorn im wirklichen Leben begegnen könnten, was würden Sie sich erhoffen?

Wenn ich meine mittelalterlichen Quellen ernst nehme, müsste ich mich auf eine Lichtung setzen und hoffen, dass das Einhorn in mir eine reine Jungfrau sieht. Ich denke, das würde mir nur schwer gelingen (lacht). Ich erhalte mir die Faszination am Einhorn, indem ich nie eines zu Gesicht bekomme.  

Vielen Dank für das Gespräch.