Vom Leerstand zum Wiener Hotspot für junge Kunst und Kultur
Das Wiener Kollektiv NEVER AT HOME hat kürzlich das leerstehende Funkhaus des ORF erobert – und das nicht mit einem Radioprogramm, sondern mit 73 Atelierräumen für junge Kreative. Für vorerst ein Jahr werden sie in dem denkmalgeschützten Gebäude Ausstellungen kuratieren und Veranstaltungen organisieren. Vera Grillmaier, Mitgründerin des Vereins, hat uns einen Blick hinter die Kulissen gewährt.
Text: Rahel Schneider, Fotos: NEVER AT HOME für C/O Vienna Magazine
Treffpunkt für das Interview: das Teamzimmer im 2. Stock des Funkhauses. Wir nehmen auf den zwei Sofas in der Mitte des Raumes Platz, um uns herum herrscht Chaos. Ein Fotoshooting mit der Modeschule Linz steht an. Wir sprechen mit Vera (Zweite von links) über die Hürden von Zwischennutzungen, schwierige Künstler und Künstlerinnen und das Gefühl, nie zu Hause zu sein.
Wir haben dem Team von Never at Home eine Analogkamera mitgegeben, damit es für uns seinen Alltag fotografiert. Die einzige Regel: Einfach abdrücken, Kontrolle über das Ergebnis gibt es nicht!
Rahel Schneider: Euer Verein, dessen Kernteam aus sechs Mitgliedern besteht, wurde 2021 gegründet, um Räume, die leer stehen, für Kunst zu nutzen. Ihr seid mittlerweile schon sage und schreibe drei mal in Wien umgezogen! Von einer leeren Schule in eine Prunkwohnung, dann in eine ehemalige Druckerei und nun in die Argentinierstraße. Mal ehrlich: Fühlt Ihr Euch noch als Kulturmanagerinnen oder manchmal eher als Hausmeisterinnen?
Vera Grillmaier: Wir drehen zumindest am Ende des Tages nicht das Licht im ganzen Haus ab (lacht). Aber wenn das Klo verstopft ist, müssen wir schon einen Installateurbetrieb organisieren. Wir sorgen dafür, dass das Projekt läuft! Das machen wir aber hauptsächlich dadurch, dass wir kreative Konzepte für die Häuser erarbeiten, sodass eine Zwischennutzung mit Künstlerinnen und Künstlern überhaupt möglich ist. Wir leisten auch viel Kommunikationsarbeit mit den Immobilienbesitzenden.
Also mehr Orga als Kunst?
Wir selbst sind ja keine Künstlerinnen und Künstler, sondern kommen alle aus dem Kulturmanagement. Das ist wichtig für das Projekt. Wenn du selber immer deine eigenen künstlerischen Sachen hineinbringen willst, dann steht das in Konkurrenz dazu, dass du eigentlich etwas für die Community machen willst. Unsere Rolle besteht eher im Ermöglichen. Wir organisieren viele Ausstellungen, unsere kuratorische Arbeit ist zentral.
Woher kam die Idee für Never at Home?
2021 wollten wir eigentlich nur eine Ausstellung veranstalten. Diese sollte halb digital, halb vor Ort stattfinden – wie das eben zur Corona-Zeit üblich war. Wir sind dann auf ein ehemaliges Schulgebäude in der Schellinggasse im 1. Bezirk gestoßen, da standen 3.000 Quadratmeter leer. Dann ging es Schlag auf Schlag. Angesichts dieses tollen Raumangebots dachten wir alles größer und erweiterten das ursprüngliche Konzept zu einer Zwischennutzung – und die Bundesimmobiliengesellschaft stimmte dieser zu!
Laurenz, Praktikant bei Never at Home, erzählt von seinem Arbeitsalltag:
„Es gibt so Tage wie heute, da betreue ich ein Fotoshooting. Aber manchmal heißt es auch: Türe verbarrikadieren!“
Wieso denn das?
„Die war kaputt, also haben wir eine Holzplatte dran genagelt. Es ist ein vielseitiger Job.“
Mittlerweile seid Ihr in das älteste Funkhaus Österreichs umgezogen, auch keine schlechte Adresse. Verändert dieser Ort Eure Arbeit?
Jedes Haus hat seine Eigenheiten und verlangt von uns, anders zu arbeiten. Das Funkhaus hat eine ganz eigene Stimmung und steht für so viele Dinge: Dialog, Kultur, Austausch, Kritisch-Sein. Daran möchten wir anknüpfen und gleichzeitig auch unser eigenes Ding machen. Besonders toll ist, dass am Funkhaus so ein großes gesellschaftliches Interesse besteht, jeder und jede kennt das Gebäude. Deshalb sind zu unserer Eröffnung viele Leute gekommen, die wissen wollten, wie es hier drinnen überhaupt aussieht.
Wie schafft Ihr es sonst, Menschen außerhalb der Kunstszene zu erreichen?
Das kann schwierig sein, aber niederschwellige Programme anzubieten, ist unser ernst gemeintes Ziel. Wir hatten mal eine Ausstellung, die „Art & Crime – Kunst und Verbrechen“ hieß. Ein Thema, das auch Leute spannend fanden, die sich sonst nie in eine Galerie verirren würden. Wir probieren wirklich, zugängliche Formate zu entwickeln, und setzen viel auf Kunstvermittlung. Die Politik und Idee hinter einer Zwischennutzung ist ja, Räume zu schaffen, die der Nachbarschaft und der Stadt etwas zurückgeben können.
Im 1. und 2. Stock des Funkhauses gibt es 73 Atelierräume zwischen 10 und 30 Quadratmetern, die für 15 Euro pro Quadratmeter im Monat inklusive Strom und Heizung vermietet werden. Die ehemaligen Räumlichkeiten von Ö1 und Radio Wien bieten Platz für rund 100 Künstlerinnen, einige Ateliers können geteilt und gemeinsam genutzt werden. In der ehemaligen Garage ist eine Keramikwerkstatt entstanden, während die früheren Radiostudios dank ihrer Schallisolierung jetzt als Musikproberäume genutzt werden können. In Gemeinschaftsräumen finden die Künstlerinnen unterschiedlichster Disziplinen einen Ort für Austausch und Inspiration.
Wird man als Zwischennutzerin nicht auch immer ein bisschen ausgebeutet? Ihr wertet den Ort oder die Gegend auf, schützt ihn zumindest vor Verfall und Vandalismus, dann irgendwann werdet Ihr rausgeschmissen und der Investor kommt?
Wir vertreten den Standpunkt, dass man in sehr kurzer Zeit sehr viel schaffen kann. Es zahlt sich am Ende aus, wenn auch nicht monetär. Wir sind von der Idee des Ehrenamts getragen. Darin liegt der Reiz: Wir machen es, weil wir Bock darauf haben. Du betrittst einen Ort, wissend, dass du ihn bald wieder verlassen musst. Das Temporäre ist das Spannende an unserer Arbeit, es schafft eine besondere Wertschätzung für den Ort, eine eigene Stimmung im Team, eine ganz andere Motivation für das Projekt.
Das ORF-Gebäude ist riesig. Hast Du einen Lieblingsort?
Klar, das Foyer und das Stiegenhaus sind wahnsinnig eindrucksvoll. Die Leute haben ihre Studios aber auch so süß und liebevoll eingerichtet. Die können definitiv mit dem Stiegenhaus mithalten! Am liebsten mag ich aber schon den Teamraum von Never At Home, in dem wir gerade sitzen. Hier treffen sich alle. Manchmal kommen auch Künstlerinnen aus dem Haus und schauen, ob jemand von uns da ist. Dann sitzt man da und tratscht ein bisschen, das ist urnett …
Und was ist nicht so prickelnd im ORF-Funkhaus?
Der Weg zum Müll ist schon sehr weit. Eine Odyssee.
Gibt es ein Maskottchen, das Euch von Ort zu Ort begleitet?
Leider schleppen wir grundsätzlich immer zu viele unnötige Sachen von Ort zu Ort. Der Vater eines Freundes ist Besitzer eines Waxing-Studios, und von ihm haben wir einen Plakathalter geschenkt bekommen. Wir waren begeistert. Jetzt haben wir den wirklich seit zwei Jahren über drei Standorte für nichts verwendet. Vorne steckt immer noch dieses Bild drin: „Rasierst du noch oder waxt du schon?“
Was magst Du besonders an Eurem Projekt?
Ich habe das immer toll gefunden, dass wir uns einen Rahmen erschaffen, unsere eigene Vision umsetzen zu können. Das ist eine große Freiheit. Wir sind auch alle befreundet, wir müssen das nicht machen, wir wollen das machen. Never at Home ist ein Teamding. Über unser Kernteam hinaus haben wir ein wahnsinnig großes Netzwerk aufgebaut, sind mit vielen Leuten in Kontakt.
Das kann auch anstrengend sein …
Künstlerinnen und Künstler sind einfacher als ihr Ruf. Die meisten sind kooperativ und sehr dankbar dafür, was wir ihnen ermöglichen. Wir stellen ja nicht nur Studios zur Verfügung, sondern integrieren die Kunstschaffenden im Haus auch in Veranstaltungen und Ausstellungen. Das schönste Kompliment ist, wenn wir von den Kreativen Lob für unsere Organisation und die angenehme Zusammenarbeit bekommen, vor allem bei Ausstellungen. Sie sagen, sie würden sich durch uns wertgeschätzt fühlen. Teilweise sind sie richtiggehend überrascht davon, da sie so einen Umgang nicht gewöhnt sind.
Vernetzen sich die Kreativen wirklich oder kocht jede – wie in vielen Co-Working-Spaces – dann doch nur ihr eigenes Süppchen?
Das Vernetzen klappt extrem gut. Es ist wirklich schön, wenn die Leute im Haus Projekte gemeinsam auf die Beine stellen, dann entstehen tolle Synergien. Wir haben neuerdings auch Musikerinnen und Musiker im Haus, die Schnittstelle zwischen bildender Kunst und Musik finde ich besonders spannend.
„Wir haben einige Performance-Künstlerinnen im Haus, vielleicht auch wegen unseres neuen Musikschwerpunkts.“ Im Sommer will Never at Home ein Performance-Festival veranstalten, erzählt uns Veras Schwester Clara Grillmaier, ebenfalls Mitgründerin des Vereins. „Diese flüchtige, vergängliche Kunstform der Performance passt gut zu unserem Projekt, da es genauso temporär ist.“
Wie wählt Ihr die Leute aus, die in Eure Studios einziehen?
Wir schauen immer, dass wir in Bezug auf kreative Disziplinen und Geschlechter ausgewogen sind. Eine Balance zwischen Nachwuchs und Etablierten ist uns auch wichtig. Wir können bei den Jungen schon erkennen, ob sie mutig sind, aber gleichzeitig auch feinfühlig für die Kunst. Bei etablierten Kreativen geht es uns nicht so sehr um ihren Erfolg, sondern eher darum, dass sie ihren Stil gefunden haben, aber dennoch offen für die Gemeinschaft im Haus sind. Unsere Community zeichnet sich eben nicht nur durch den Output aus, sondern auch durch Persönlichkeiten.
Klingt fast wie bei einem WG-Casting!
Am Anfang hatten wir echt richtige Massenbesichtigungen (lacht), es kamen so 60 Leute auf einmal. Zwei so Burschen haben mal – ich weiß nicht, ob absichtlich oder nicht, tippe aber auf Ersteres – abgewartet, bis alle anderen wieder weg waren und haben dann mit uns einen Tratsch angefangen. Ich muss zugeben, ich fand die sehr sympathisch. Wir haben sie am Ende nicht genommen, weil wir ihr Portfolio nicht so toll fanden. Schade!
Auch schade für die Burschen!
Sicher, Absagen sind halt urzach. Eine Frau, der wir leider absagen mussten, schrieb uns: „Ich war schon bei Ausstellungen dabei, da wart Ihr noch in Abrahams Wurstkessel!“ So Reaktionen sind verständlich, es gibt leider nicht für jeden oder jede genug Raum.
Die Songs, die im Team gerade rauf- und runtergespielt werden: „Baltimore“ von Nina Simone und „Islands in the Stream“ von den Bee Gees.
Wenn es eine Zauberfee gäbe, die auf Kultur spezialisiert ist, und Du hättest einen Wunsch frei, welcher wäre das?
Vernetzungsorte sind wahnsinnig wichtig. Junge Künstlerinnen oder Künstler brauchen unbedingt einen leistbaren Arbeitsraum. Den großen Bedarf sehen wir an den vielen Bewerbungen. Allen Leuten, die es mit dem künstlerischen Schaffen ernst meinen, sollte ein Arbeitsort zustehen, das wäre meine Vision. Mein Traum wäre, dass es ein bisschen weniger um die Kunstszene geht, weniger um Party und die Frage, wer mit wem chillt, sondern mehr um die Kunst.
Das ist bei Euch nicht so?
Mir persönlich ist es komplett wurscht, wer als „cool“ gilt und wer nicht. Selbstdarsteller wollen wir nicht im Haus haben. Das braucht das Projekt nicht. Das braucht niemand in der Kunst. Leute, die es mit der Kunst ernst meinen, sind vielleicht nicht so laut. Aber wenn man hinschaut, erkennt man: Die sind saugut in dem, was sie machen. Sicherlich kann es auch nett sein, hin und wieder ein Bier gemeinsam zu trinken, aber es ist nicht notwendig, auf jeder Party zu tanzen. Das wird dich nirgends hinbringen.
Dein liebster Moment bei Never at Home?
An unserem ersten Standort, der Schule, haben wir mal alle gemeinsam einen Film geschaut, das ganze Team war dabei. Wir waren vom Vortag alle ein wenig verkatert. Der Film war so gruselig, ich glaube, es ging um einen Exorzisten. Ich hasse solche Filme, aber der Abend hatte dieses Gefühl von zu Hause sein.
Was bedeutet dieses Zuhausesein für Dich?
Früher wohnte ich in einer WG. Ich habe diese Wohnung geliebt und wollte niemals ausziehen – der perfekte Ort, das perfekte Zuhause. Irgendwann kam der Moment, an dem ich rauswollte. Meinen Auszug habe ich seitdem keine einzige Sekunde bereut. Der Ort macht nicht das Zuhause aus. Zu Hause ist für mich an eine Episode im Leben gebunden. Never at Home ist überall da zu Hause, wo wir sind.
Am 15. März veranstaltet Never at Home eine von dem Berliner Label Kashual Plastik kuratierte Klangkunst-Veranstaltung. Die ehemaligen Aufnahmestudios werden von 15 Uhr bis 23 Uhr durch experimentelle Klanginstallationen, Performances und Konzerte akustisch belebt.
Never at Home wurde 2021 von Clara Grillmaier, Vera Grillmaier, Nina Zips, Nyusta Ruckendorfer und Stefan Altenriederer gegründet. Das Kollektiv schafft durch Zwischennutzung eine Plattform für junge Kreative und zeitgenössische künstlerische Arbeiten. Das Kernteam hat sich mittlerweile um Fabio Gschweidl erweitert. Für zunächst ein Jahr ist Never at Home ins ehemalige ORF-Funkhaus gezogen, wo 73 Atelierräume, Workshops, Ausstellungen und Veranstaltungen angeboten werden. In Kooperation mit dem Vorarlberger Bauunternehmen Rhomberg, dem die teils denkmalgeschützte Liegenschaft gehört, wird das Projekt realisiert.