Der Taucher

In der Unterwelt

Mario Rott ist Apnoetaucher, Leistungsschwimmer, Grafikdesigner, Autor und Künstler. Seine Leidenschaft gilt dem Wasser: Als Phänomen und Medium, das Leben möglich macht. In den Ort unserer Ursprünge versinkend verschwimmen Klänge und Farben, Raum löst sich in Unendlichkeit auf. Denn wer in den Abgrund hinabtaucht, begegnet dort wahrer Schönheit – nämlich sich selbst. 

„Ich bin schon mal einer Meerjungfrau begegnet.“

Was hat der Fisch dem Vogel voraus?

Der Fisch bewegt sich in einer Welt, die zusammengehört, die endlos ist. In einem Ozean, der dort beginnt, wo er aufhört. Der Vogel muss immer wieder auf den Boden zurückkehren ...

Dich, als leidenschaftlichen Apnoetaucher und Rekordschwimmer, brauche ich ja kaum zu fragen, wo es schöner ist – an Land oder in der Tiefe?

Die Welt unter Wasser ist wesentlich schwerer erkundbar und vielleicht daher für mich reizvoller. In dieser Verborgenheit könnte man eine Schönheit sehen. Aber ich habe mit diesem Begriff ein Problem. Wir versuchen immer, Schönheit zu entdecken und als solche zu benennen. Die Schönheit per se existiert aber gar nicht. Ich glaube ja, sie erschließt sich einem, wenn man die Dinge so sein lässt, wie sie sind, und versucht, zu ihnen vorzudringen. Das Wesen der Dinge ist das Schöne an den Dingen und nicht die Dinge an sich.

Was ist das Schöne am Wasser?

Wenn ich von Schönheit und Wasser spreche, dann habe ich ein Bild im Kopf, das sicher viele haben: Man sitzt an einem sonnigen Tag an einem kristallklaren blauen See, blickt auf die Wasseroberfläche und sieht den Reflexionen des Lichts zu. Diese unendlich vielen kleinen Wellen, diese permanente Verwandlung hat für uns Menschen etwas wahnsinnig Anziehendes. Darin liegt eine Schönheit.

Luft ist das Element der Oberwelt, Wasser das der Unterwelt. Wo genau liegen die Unterschiede?

Die Unterwasserwelt ist eine absolute Gegenwelt. Nicht nur weil Wasser 800-mal dichter als Luft ist und dadurch akustische Signale ganz anders übertragen werden, sondern auch weil es sich ganz anders anfühlt, weil unsere Haut einen viel direkteren Kontakt zum Wasser hat, als sie ihn jemals zur Luft haben könnte. 

Wenn Du Bilder vom Universum siehst – diese unendliche Weite, die meditative Leere –, erinnert Dich das an den Ozean?

Das Dunkel des Weltalls erinnert mich oft an die Tiefe des Meeres. Aber das All ist ohne technische Hilfsmittel nicht erreichbar. Da würden wir zumindest immer eine Pumpe hören, die uns mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff versorgt. In der Unmittelbarkeit und Intensität der Unterwasserwelt könnten wir das All nie erfahren.

„Wir sind irgendwann dazu verdammt worden, ins Trockene geboren zu werden.“

Du kommst aus Tirol, von hoch oben aus den Bergen. Was hat Dich in die Tiefe hinabgezogen?

Die wunderschönen Bergseen. Ich habe recht früh gemerkt, dass das Wasser ein Element ist, in dem ich mich wahnsinnig wohlfühle. Im Wasser kann ich eine Freiheit erleben, die ich anderswo nicht erfahren kann. Aus diesem Grund war ich diesem Medium sehr schnell verfallen.

Viele Menschen fürchten das Wasser. Kannst Du die Angst vor dem Element verstehen?

Die kann ich sogar sehr gut verstehen. Das Atmen ist unsere Nabelschnur zum Leben, unter Wasser ist das nun mal nicht möglich. Es ist eine Urangst, die auch mit der Tiefe, dem Unterbewussten und dem Nichtsichtbaren zu tun hat, mit der Angst zu versinken. Die Tiefe bedroht uns aber eigentlich überhaupt nicht, viel gefährlicher ist die Kälte des Wassers, doch davor fürchtet sich komischerweise niemand.

Beim Tauchen geht es darum, loszulassen und sich auf eine andere Welt einzulassen ...

Loslassen ist das Schwierigste überhaupt, weil das auch bedeutet, dass man fallen kann, keine Referenzen mehr hat, dass man auf sich selbst „zurückgeworfen“ wird. Das macht einerseits natürlich Angst, andererseits eröffnet es einem die Möglichkeit, stark und autark zu werden. Loslassen zu lernen ist auch ein Teil des Trainings. Yoga ist eine sehr gute Vorbereitung. Dieses große Blau ist ein unbegrenzter Raum, in dem alles und nichts passieren kann. Man muss bereit sein, sich in der Tiefe selbst zu begegnen.

Was war das Gefährlichste, das Du bisher erlebt hast?

Gefährlich wird es, wenn man sich selbst überschätzt, wenn man übermütig wird. Bei mir war es eine Strömung, die mich ins offene Meer hinausgetrieben hat und der ich alleine nie mehr entkommen wäre. Das war in Ostafrika, in Tansania, auf einer sehr kleinen Insel im Indischen Ozean. Da hatte ich schon mit mir abgeschlossen ... 

Das klingt nach dem Ende. Wie bist Du dem Tod entronnen?

Ich habe sehr laut und sehr lange um Hilfe gerufen. Ein Fischer und sein Freund haben mich gehört und aus dem Wasser gezogen. Zu diesem Zeitpunkt war ich schon über eineinhalb Stunden im Meer. Ich hatte die Gegebenheiten vorher nicht abgeklärt. Daraus habe ich sehr viel gelernt. Das gehört auch zum Sein im Wasser dazu, man bewegt sich immer entlang einer Grenze, die man auch sehr schnell überschreiten kann.

Was ist das Extremste, das Du getan hast?

Ich hab gar ja nichts Extremes getan ... Das Extremste, das mir passiert ist, war die Erfahrung, Vater zu werden. Vielleicht auch das Mutigste, was ich jemals getan habe. 

Die Durchquerung des Marmarameeres war also nichts dagegen?

Nein (lacht). Das Extremste, das messbar ist, war die Durchquerung der Meerenge von Bonifacio. Das ist eine Strecke von 17,5 km zwischen Korsika und Sardinien. Das war die weiteste Strecke, die ich bis jetzt geschwommen bin. Aber das war gut machbar, daher hab ich es auch gar nicht als so extrem empfunden.

Was hältst Du von dem Extremsportler Felix Baumgartner und seinen Weltrekorden, wie dem Red Bull Stratos, seinem Fallschirmsprung aus der Stratosphäre, aus einer Höhe von fast 40 km?

Von dem halte ich natürlich gar nichts. Es gibt zwar Menschen, die ihren Körper beherrschen und Leistungen erbringen können, die als extrem gelten, aber wenn man sich dabei nur noch als Maschine begreift, dann verhungert der Geist. Das gibt es im Sport leider oft. Körper und Geist in Verbindung können etwas sehr Schönes sein, aber die rein körperliche Leistung ist für mich etwas, das überhaupt nicht zählt.

„Man muss bereit sein, sich in der Tiefe selbst zu begegnen.“

Du hast einen Kurzfilm gedreht, einen Bildband veröffentlicht und schreibst gerade an einer philosophischen Abhandlung, alles unter dem Titel „A Phenomenology of Water“. Du willst dem Wasser als Phänomen auf die Schliche kommen. Was zeichnet dieses Phänomen aus?

Dass es für uns nicht greifbar ist, dass wir – die immer alles verdinglichen wollen – kläglich an dem Versuch scheitern würden, das Wasser so zu begreifen, als wäre es ein Ding. Das Spannendste am Phänomen Wasser ist, dass man gar nicht viel darüber sagen kann, dass man es in all seiner Intensität und Erscheinungsform nur kennenlernen kann, indem man sich ins Wasser begibt. 

Unter Wasser werden sowohl visuelle als auch akustische Reize verfremdet. Wie verändert sich dadurch die Wahrnehmung?

Es ist eine Veränderung, die ganz abrupt eintritt, sobald man untertaucht, und die so allumfassend ist, dass wir mit unseren Sinnesorganen gar nicht die Möglichkeit haben, diese zu begreifen. Dadurch, dass Wasser eine ganz andere Dichte hat, ist alles viel unmittelbarer. Die Wahrnehmung verschiebt sich in verschiedene Richtungen. Der Raum ist für uns nicht mehr begreifbar in seiner Weite. Akustisch verändert sich alles. Man kann Töne nicht mehr verorten; sie kommen von überall und von nirgendwo. Da wir selbst zum Großteil aus Wasser bestehen, sind wir auch Teil dieses Mediums. Töne gehen im Wasser durch uns durch. Es kommt auch vor, dass man seinen Herzschlag sehr stark hört und sich darüber wundert, wo dieser Ton herkommt. Das sind physiologisch gesehen absolute Ausnahmezustände, die wir an der Oberfläche nie wahrnehmen würden.

„Ich suche nach dem tiefsten Punkt – dem tiefsten Punkt in mir.“

Als Taucher bist Du der Schwerkraft enthoben, hast keinen Boden unter den Füßen. Was macht das mit einem?

Das Nichtspüren seiner eigenen Schwere, der Last enthoben zu sein, das eigene Gewicht durch die Gegend schleppen zu müssen, kann große Freiheit bedeuten. Durch dieses Gleiten und Schweben gerät der Körper in einen Zustand, den wir im Laufe unserer Evolution mal gekannt haben. 

Alles Leben ist dem Wasser entstiegen. Ist das Eintauchen in den Ort der Phylogenese auch eine Suche nach unseren Ursprüngen, eine Erforschung unseres menschlichen Daseins?

Absolut. Indem wir uns diesem Medium aussetzen, erinnert sich unser Körper daran, woher wir kommen. Unser Planet Erde sollte eigentlich Planet Wasser heißen. Der Erdanteil ist ganz gering. Über 75 Prozent der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt. 

Wenn Du tauchst, verschwindest Du von der Erdoberfläche. Entfliehst Du dadurch dem Leben?

Wir sind irgendwann dazu verdammt worden, ins Trockene geboren zu werden, und haben gelernt, damit zurechtzukommen. Es ist eher ein Zurückgehen ins Wasser, um sich wieder erinnern zu können, wie es vielleicht einmal war, als wir noch Fische waren oder Embryos im Mutterleib. Das ist eine Geborgenheit, die man an der Erdoberfläche gar nicht erleben kann. 

„Abgründe können etwas sehr Beruhigendes haben, weil man sich dadurch bewusst wird, dass es so etwas wie Tiefe überhaupt gibt.“

Wonach tauchst Du?

Ich suche nach dem tiefsten Punkt, aber nach dem tiefsten Punkt in mir. Das Im-Wasser-Sein eröffnet einem die Möglichkeit, sehr tief in sich hineinzutauchen. 

Wird man tiefsinniger, je tiefer man taucht?

Die extreme Abgeschiedenheit unter Wasser eröffnet die Möglichkeit, vieles anders zu betrachten. Das birgt auch ein gewisses Suchtpotenzial. Man möchte immer wieder dort hin, um weiter daran zu arbeiten, wie tief man eigentlich in sich reingehen und diese Tiefe spüren kann, auch physisch.

Für den Medienwissenschaftler Vilém Flusser sind der Abgrund des Meeres und der Abgrund unserer Seele ein und derselbe. Was hast Du durch das Tauchen über Deine Abgründe erfahren?

Ich habe erfahren, dass es keinen Sinn macht, meine Abgründe nur zu erahnen, man muss sich in sie hineinbegeben. Abgründe können etwas sehr Beruhigendes haben, weil man sich dadurch bewusst wird, dass es so etwas wie Tiefe überhaupt gibt. Ich glaube nicht, dass in den Abgrund zu blicken ein Schreckgespenst ist. Für mich sind der Abgrund und die Tiefe etwas sehr Schönes. Es ist eine verborgene Schönheit, die sich einem nicht schnell erschließt, die man lange suchen und für die man sehr viel tun muss.

Unter 30 m treten erste Symptome der Stickstoffnarkose, des Tiefenrausches auf. Wenn man sich die Symptome anschaut, klingt das nach einem Drogenrausch ...

Die Beeinflussung des Bewusstseins ist tatsächlich ziemlich stark. Allerdings betrifft das eher die Gerätetaucher als die Apnoeisten. Lachgas ist die beste Simulation dafür, was man im Tiefenrausch erlebt. Dinge erscheinen sehr merkwürdig, lustig, man bekommt einen Tunnelblick, tut, was man normalerweise nie tun würde und man wird vor allem sehr sorglos – darin liegt die Gefahr. Die Euphorie verleitet dazu, sich nicht mehr darum zu kümmern, wie tief man ist oder wo sich der Tauchbuddy befindet. Das hat jeder Gerätetaucher schon erlebt, stärker oder schwächer. Es gibt auch Taucher, die das suchen. Die tauchen mit Pressluft besonders tief, um diesen Rausch besonders intensiv zu spüren. Das sind jedoch meist sehr erfahrene Taucher, die genau wissen, was sie tun – sonst käme das einem Selbstmordkommando gleich. 

Die Unterwasserwelt ist ein mystischer Ort. Bist Du schon mal einer Meerjungfrau begegnet?

Ja. Es hat sich dann aber leider herausgestellt, dass es eine sehr menschliche Meerjungfrau war, nämlich eine russische Freitaucherin, die von ihrem Seil weggetaucht war und der ich in 40 m Tiefe begegnet bin. Sie trug eine Monoflosse, und aus einer gewissen Entfernung sieht ein Mensch mit einer Monoflosse einer Meerjungfrau sehr, sehr ähnlich. Für einen kurzen Moment dachte ich, jetzt ist es endlich so weit (lacht). Ich habe mich leider getäuscht.

Halluzinationen entstehen, weil das Gehirn fehlende Informationen ergänzt. Unter Wasser fehlen viele Informationen, weil man vieles nicht richtig sieht oder hört.

Wasser ist auch eine Projektionsfläche. Wenn sich eine kreative Person in die Tiefe begibt, dann zieht diese mit Sicherheit mehr Wert aus ihren Erfahrungen, wird mehr sehen als jemand, der ganz praktisch an die Sache rangeht.

Unter Wasser werden wir unserer Stimme beraubt. Wie empfindest Du diesen Verlust der Sprache?

Nicht sprechen zu können kann eine große Erleichterung sein, weil man dadurch gezwungen ist zuzuhören, sich selbst und dem, was einem das Meer zu sagen hat.

Wie fühlt man sich am Grunde des Meeres?

Als ob man zum ersten Mal begreifen würde, was Sein bedeutet. Das klingt jetzt vielleicht sehr großspurig. Aber wenn man sich mit angehaltenem Atem am Grund des Meeres aufhält, befindet man sich in einem Seinszustand, der einem selbst unbegreiflich erscheint. Ich glaube, dass man dadurch ganz gut sagen kann, was Sein bedeutet.

Was bedeutet Sein?

Für mich bedeutet Sein, Momente zu erleben, in denen man ganz ruhig sein kann, in denen es nur dich gibt, deinen Körper und das dich umgebende Wasser, das Meer. Vielleicht ist es einfach ein Sich-Auflösen im Wasser, ein Gar-nicht-mehr-existent-Sein. Das könnte man schon als Sein begreifen.

„Stille umfängt den Körper, ein passives Hinabgleiten und das Wissen, dass das Göttliche nicht existiert – bloß Blau, das durch die geschlossenen Lider der Augen dringt, der nach unten sinkende Körper und der sich verlangsamende Herzschlag.“ (Mario Rott)
Der gebürtige Tiroler Mario Rott (58) ist Rekordhalter im Open Water Swimming und leidenschaftlicher Apnoetaucher. Dabei taucht man, ohne zu atmen, in die Tiefe hinab. Der Extremsportler ist aber auch Künstler und Autor. Seine größte Angst ist es, dem Medium Wasser irgendwann fern bleiben zu müssen, denn er gibt zu: „Es ist eine Verbundenheit, die schon an einer Anhängigkeit entlangschrammt.“

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