Border Collie Chester hat sich Glasscherben eingetreten, Zwergschäfermischling Chico ist zu dick, Pinscher Chipsy ist zum Krallenschneiden da. Im Neunerhaus im 5. Wiener Gemeindebezirk bekommen nicht nur Obdach- und Wohnungslose ein Dach über den Kopf, sondern – was für viele von ihnen noch wesentlich wichtiger ist – ihre Tiere gratis medizinische Versorgung. Dreimal die Woche stehen Tierärztinnen, Veterinärstudentinnen und Freiwillige ehrenamtlich für die geliebten Wegbegleiter zur Verfügung. Ein Lokalaugenschein.
Text: Reportage: Lisa Peres, Fotos: Vivienne Aubin für C/O Vienna Magazine
Die Bindung zwischen Mensch und Tier ist für das seelische Wohlbefinden der Obdach- und Wohnungslosen von essenzieller Bedeutung, das merkt man hier besonders.Heute ist Tierärztin Silvia Zips im freiwilligen Einsatz in der Tierpraxis des Neunerhauses. Sie ist eigentlich auf Pferde, im Besonderen auf deren Zähne, spezialisiert, also Pferdezahnärztin und unterhält eine eigene Ordination in Wien. Ins Neunerhaus kommt sie seit sieben Jahren regelmäßig, ehrenamtlich und „vom tiefen Bedürfnis getragen, der Gesellschaft etwas zurückzugeben und Hilfe für die Schwächsten anzubieten“, denn das sei für ihr Leben „das Schönste“.
Um Punkt 10.30 Uhr öffnet an diesem Montag die Tierpraxis des Neunerhaus ihre Türen. Die ersten Obdachlosen treffen mit ihren Tieren ein. Einer von ihnen ist Neziri*. Er sorgt sich um seinen Border Collie Chester. Dieser ist vor einem Jahr in Scherben getreten, die Wunde am Fuß war zwar verheilt, reißt jedoch immer wieder auf. Seitdem humpelt Chester und es bildet sich wiederholt Eiter. Vor zwei Tagen wurde die Wunde in der Praxis mit einer Klinge aufgeschnitten, heute kommt er zur Kontrolle. Außerdem ist Chester übergewichtig und braucht Diätfutter, auch das erhält er hier. Chester sei sehr intelligent, erzählt Neziri, er sei ein Hirtenhund und diese seien dafür bekannt, äußerst soziale Tiere zu sein und ihr Umfeld zu behüten. Beim Gassigehen gehe er immer zehn Meter voraus, um Neziri zu beschützen. Wenn Chester spazieren gehen will, bringt er einen Schuh und legt seine Pfote auf Neziris Hand. Menschen und Möpse kann Chester jedoch nicht leiden. Neziri hat dafür keine Erklärung. Chester irgendwo draußen anzuleinen, wenn er nicht hineindarf, das würde er niemals tun, zu groß wäre die Angst, er könne gestohlen werden.
Der Warteraum der Praxis füllt sich, die Atmosphäre ist unaufgeregt. Das Team strahlt Ruhe, Kompetenz und Freundlichkeit aus. „Manche kommen auch wegen der Gemeinschaft und für ein Gespräch. Der Arzttermin ist ein willkommener Fixpunkt in ihrem Leben“, erzählt Silvia Zips. „Oft erzählen uns die Frauchen und Herrchen auch ihre privaten Sorgen. Wir haben dann das Problem, sie wieder aus der Praxis rauszubringen. Wir kümmern uns ausschließlich um ihre Tiere.“
Heute sind in der Praxis nur Hunde zur Behandlung anwesend. Chico ist ein Zwergschäfermischling und 13 Jahre alt. Das Gewicht, das seinem Besitzer Alex fehlt, hat Chico zu viel. Das Paar ergibt ein sehr berührendes Bild. Chico leidet unter dem Cushing-Syndrom und hat einen Tumor in der Hirnanhangsdrüse. Ihn quält ständiger Hunger und Durst und er empfindet kein Sättigungsgefühl. Er ist zu dick und sollte dringend auf Diät gesetzt werden. Das Problem sei aber, erzählt sein Besitzer Alex, dass er dauernd Futter von Leuten zugesteckt bekomme und alles esse, was er auf der Straße finde. Wenn man ihm einen Maulkorb überstülpe, lege er sich aus Protest einfach flach auf die Straße und bewege sich keinen Millimeter mehr vom Fleck. Alle zwei Wochen muss Chico zur Kontrolle. Er sei absoluter Einzelgänger und möge weder Hunde noch Menschen, aber Alex mag er.
Ein Pärchen hat Platz genommen, Sabine und Dejan. Wie ein Kaiser thront der zehnjährige Pinscher Chipsy auf Dejans Schoß, seine ganze Körperhaltung und sein tiefentspannter, zufriedener Blick zeigen, wie sehr dieser Hund geliebt wird. Ob Chipsy zwischen ihnen im Bett liege? Beide lachen und bestätigen das. Er sei halt ihr Kindersatz und sie könnten sich ein Leben ohne ihren Hund unter keinen Umständen mehr vorstellen.
Warum sie heute da seien? Chipsy hätte einen Bruch und dadurch Gewebefett im Gesäß, das müsse operiert werden. Der Termin sei in zwei Wochen, heute sei er zur Kontrolle und fürs Krallenschneiden da. Schmerzen hätte Chipsy keine. Er sei überhaupt einer der blitzgescheitesten Hunde der Welt, beim Bettmachen helfe er, die Bettdecke gerade zu legen, und wenn man sie schüttle, drücke er sie mit seinen Pfoten in Position. Er sei ein „Springinkerl“, lieb zu allen Hunden, groß oder klein, und liebe Kinder über alles. Wenn er pinkeln müsse, stelle er sich auf die Vorderpfoten und mache Handstand, nicht selten passiere es dann, dass er kopfüber falle, auch beim Trinken aus dem Teich sei er schon öfter übermotiviert kopfüber über die Reling gekippt. Im Wartezimmer müssen alle herzhaft angesichts dieser Bilder lachen.
Gebellt hätte Chipsy erst zweimal in seinem Leben, so als würde er solidarisch Rücksicht nehmen wollen auf sein Herrchen Dejan, denn der litte seit 22 Jahren an Cluster-Kopfschmerzen. Am Ende erzählen die beiden noch, das Chipsy alles esse, er liebe vor allem Kebab mit Chili, Sauerkraut und Krautsalat.
Gerade tritt Neziri mit seinem Border Collie Chester aus dem Behandlungsraum heraus. Er wirkt sichtlich beruhigt. Der Fuß sei nicht mehr eitrig, aber Chester sei noch dick, man hätte ihm drinnen noch mal eindringlich geraten, seinen Hund auf Diät zu setzen.
Bevor Neziri und Chester die Praxis verlassen, erzählt er draußen auf dem Gang, dass er drei Jahre lang eine Krähe als Haustier gehalten habe. Auf der Donauinsel sei sie damals vom Baum gefallen und hatte eine gebrochene Kralle. Neziri habe sie dann aufgepäppelt und an einer Schnur spazieren geführt. Tschakko hieß sie. Er ließ sie schließlich frei. Sie kam noch drei Monate lang treu an sein Fenster und brachte zum Dank glitzernde Geschenke mit. Eines Tages sei sie dann verschwunden gewesen. Neziri und Chester müssen los. Es war eine sehr schöne Begegnung.
Es ergibt sich gut, dass Border Collie Chester, seines Zeichens Mopshasser, nun nicht mehr da ist, denn Guiliano kommt mit seinem jungen schwarzen Mops Rocky zur Tür herein. Guiliano ist hier, weil Rocky eine Entwurmung benötigt, manchmal trete sein Augenlid raus, was ein Hinweis auf Würmer sein könne, hätten ihm seine Freunde gesagt. Rocky hat glänzendes Fell und sieht äußerst gepflegt aus. „Er ist mein allerbester Freund. Seitdem ich ihn habe, fühle ich mich gut. Er versteht mich besser als die Menschen und beschützt mich.“ Manchmal lege er sich einfach zu seinem Hund auf den Boden und schliefe dort neben ihm, wenn es in seinem Bett zu einsam würde. Einmal rannte Rocky zu einem Staffordshire, der an einem Baum angeleint war, der verbiss sich in Rockys Genick, so Guiliano. Zehn Minuten hätte es gedauert, ihn aus dessen Fängen zu befreien, eine Ewigkeit. Zum Glück hatte der Hund nur Rockys Haut erwischt.
Später, als alle Patientinnen nach Hause gegangen sind, erzählt Silvia Zips, dass Guiliano ein Junkie sei. Ein Ex-Junkie, wie jener selbst behauptete, was das Team bezweifelt, denn wenn man ihm rate, Rocky zu kastrieren, um solche Unfälle wie mit dem Staffordshire zu vermeiden, habe er dies fünf Minuten später schon wieder vergessen. Man versuche, die Menschen hier im Neunerhaus zu Maßnahmen für ihre Tiere zu motivieren, aber es sei eben nicht möglich, sich den Problemen der Menschen auch noch zu widmen „Es geht hier ausschließlich um die Hilfe für die Tiere“, so Zips. „Abgesehen von der Behandlung, können sich hier Obdach- und Wohnungslose übrigens auch Zubehör wie Käfige, Spielzeug, Leinen, Maulkörbe oder Tierfutter mitnehmen.“
Die Zeit vergeht an diesem Tag wie im Fluge, bald wird die Praxis schließen. David mit seinem elf Jahre alten Mischling Pancake ist einer der Letzten, die heute noch drankommen. Er muss noch kurz warten, bis er aufgerufen wird. Er setzt sich auf die Stufen zur Eingangstür, wo er auf Englisch erzählt, dass er seinen Vierbeiner von der Straße in Barcelona rettete. Pancakes Zustand sei damals erbärmlich gewesen. Er sei davor mit Stöcken und Steinen geschlagen worden, war stark abgemagert, krank und litt an einer schlimmen Pilzinfektion.
David sei heute im Neunerhaus, weil Pancakes Auge operativ entfernt werden müsse und er außerdem ein gebrochenes Bein hätte. Seine vier Kilo Übergewicht, weil er sich wegen seiner Leiden nicht genug bewegen könne, wären somit noch das geringste Problem. Er würde für Pancake alles tun, sie seien die allerbesten Freunde und unterhielten sich den ganzen Tag. Davids Fürsorge für Pancake geht sogar so weit, dass er für ihn in Österreich bleiben will, denn dort sei ein viel bekömmlicheres Klima, in Spanien sei es für Pancake zu heiß.
Als David und Pancake gehen, wird es still in der Ordination, alle Patienten konnten heute versorgt werden. Silvia Zips Résumé? Ein unaufgeregter, durchschnittlicher Tag. Eine geistig eingeschränkte Hundebesitzerin wollte ihrem Hund partout keinen Antikratz-Trichter um den Hals legen lassen, das sei bedauerlich. Wie lange Silvia Zips den freiwilligen Dienst noch leisten möchte? „Solange ich noch stehen und arbeiten kann, bis sie sagen, diese Pferdefrau können wir nicht mehr ertragen!“
Diese Reportage ist in der Printausgabe 7/2024 „The Animal Issue“ erschienen. Sie können das Magazin in unserem SHOP bestellen.
*Auf Wunsch der Tierbesitzerinnen werde diese teilweise nicht auf den Fotos gezeigt und nur mit Vor- bzw. Rufnamen genannt.
Das Neunerhaus in Wien ist eine gemeinnützige Organisation, die sich für obdachlose und armutsgefährdete Menschen einsetzt. Sie bietet nicht nur Wohnraum, sondern auch medizinische Versorgung und soziale Unterstützung. Diese gilt nicht nur den Menschen, sondern auch ihren Haustieren, die für viele eine große emotionale Stütze sind: Im Neunerhaus werden sie kostenlos medizinisch versorgt.
Silvia Zips ist eine österreichische Tierärztin, die sich intensiv für die kostenlose medizinische Versorgung von Tieren obdachloser Menschen im Rahmen des Neunerhaus-Projekts engagiert. Sie ist eigentlich auf Pferde, im Besonderen auf deren Zähne, spezialisiert, also Pferdezahnärztin und unterhält eine eigene Ordination in Wien.