Der Explosive

Mit einem Regenschirm in der Hand aus dem Flugzeug springen

Der Schweizer Roman Signer (*1938) ist einer der bedeutendsten europäischen Künstler der Gegenwart. Seine Werke sind prozessuale Skulpturen von bizarrer Ästhetik, Poesie und Humor, Ergebnis penibelster Planung und unberechenbaren Zufalls. Signer und seine Frau Aleksandra empfingen uns in ihrem Atelier in St. Gallen. Wir sprachen über die Kindheit, Scham, Freude und seine Lust an der Pyrothechnik.

„Ganz elementare Vorgänge.“

Antje Mayer-Salvi: Haben Sie als Kind viel Blödsinn gemacht?

Roman Signer: Jaja, auch Gefährliches. Mein Onkel besaß einen Eisenwarenhandel und verkaufte Sprengstoff, der war frei erhältlich damals. Ich habe oft welchen von ihm bekommen. Heute ist alles reglementiert. 

In vielen Interviews erwähnen Sie, dass Sie nicht auf den „Sprengkünstler“ reduziert werden wollen, aber Lust an Explosionen und am Erschrecken hätten Sie schon noch?

Ich will niemanden erschrecken, ich erschrecke nur mich selbst manchmal. (Aleksandra Signer im Hintergrund ruft: „Er ist einfach ehrlich!“) Es ist ein falsches Image, das man von mir hat: „Signer, der Sprengkünstler“. Ich arbeite auch mit Wasser, Sand, Wind, den Elementen eben. Natürlich habe ich immer gerne hie und da Explosionen gemacht, das ist eine Entspannung. Man fühlt sich nachher ganz leicht, man könnte schweben. Ich mache jetzt nur noch pyrotechnische Sachen mit Raketen, Schwarzpulver und so. Die Polizei hat mir mein Sprengpulver „weggenommen“, ich sei ein zu großes Risiko.

Als Künstler?

Als Artist und Terrorist (lacht). Ich habe mich aber immer an die Vorschriften gehalten und wurde nie auffällig. Ich besitze einen Sprengausweis.

Sie haben einmal erzählt, dass Sie als kleiner Bub bei einem Fest mit einem für die Schweiz typischen Ritual mit Feuer fast ausgerastet sind, weil es Ihnen so getaugt hat. Was war das?

Das war der Funkensonntag im Appenzell, wo ich aufgewachsen bin. Da sammelten die Kinder Brennmaterial, Schachteln und alte Betten, daraus wurden dann riesige Kegel gebaut und angezündet. Da kam ein blöder Beamter auf die Idee, am Morgen danach ein Glas mit Asche zu befüllen und nach Bern zum Umweltamt zu senden. 

„Eine Explosion ist eine Entspannung.“

Was kam dabei heraus?

Die haben das analysiert und geschrieben: „Sofort aufhören, das ist alles chemisch und verseucht.“ Es wurde also abgeschaltet. In Vorarlberg machen sie jetzt Türme aus Holz, das haben wir in der Schweiz übernommen. Das ist auch schön, aber es ist nicht mehr dasselbe. Die Spannung lag im Sammeln, da war ich immer mit dabei als Bub. Die Kinder aus dem Nachbardorf sind mit riesigen Leiterwagen zu uns gekommen und haben unser Material wie Piraten geraubt. Wie auf hoher See.

Die Schweiz kann ja schon sehr eng sein und Sie nehmen sie in Ihrer Arbeit indirekt auch oft auf den Arm …

Paradoxerweise kann man in der Schweiz aber auch viele Sachen machen, die man woanders nicht tun dürfte. Die Schweizer haben alle Waffen zuhause, ich besitze nur Handfeuerwaffen. Und eine Schrotflinte natürlich auch! Habe ich alle auch im Rahmen meiner künstlerischen Arbeit schon verwendet.

Das ist schön, dass die Waffen bei Ihnen eine sinnvollere Verwendung finden. Ich zitiere aus Goethes Faust II: „Bin der Poet, der sich vollendet, wenn er sein eigenst Gut verschwendet“. Was bedeutet Verschwendung für Sie?

Verschwendung ist das Gegenteil von Kleinlichkeit. Kleinlich bin ich nicht, sonst könnte ich nicht so arbeiten. Meine Arbeit ist Verschwendung, dafür werde ich manchmal auch angegriffen. Ich habe auf der documenta 8 in Kassel ja meine Sprengaktion „Aktion für die Orangerie“ mit tausenden Papierblättern gemacht, die ich durch eine Sprengung vom Himmel regnen ließ. Da hat mir eine Lehrerin – typisch Lehrerin – geschrieben, ich solle mich schämen, so viel Papier zu verbrauchen.

Müssen wir verschwenden, damit wir überleben können?

Das weiß ich nicht. Klar ist, dass was ich mit dem Material mache, eine Verschwendung ist. Das Moralisieren macht keinen Sinn. 

„Ein Ereignis ist immer groß.“

Verschwendung ist für mich ein positiver Begriff. Meine These ist, der Mensch braucht die Orgie und die Opfergabe.

Verschwendung muss sein! Wenn alle ganz geizig werden, würde auch nichts mehr entstehen. Kunst ist Verschwendung von Energie, eine Verschwendung des Lebens des Künstlers. Man könnte sagen, ich als Künstler könnte etwas Wertvolleres erzeugen für die Menschheit, irgendeine Arbeit …

… Semmeln backen zum Beispiel …

… Beton gießen oder Reifen montieren – praktische Sachen. Ich mache jetzt halt das. Am Zürcher Flughafen beim Security Check kam ein Polizist auf mich zu und sagte ganz ernst „Sind Sie Roman Signer?“ Ich entgegnete: „Ja.“ Er dann: „Gratuliere!“ Er hätte so Freude an dem, was ich mache. Das war eine schöne Erfahrung. 

Warum glauben Sie, macht Ihre Kunst anderen so große Freude?

Das weiß ich nicht. Sie berührt seelisch irgendetwas, was vielleicht mit unserer Kindheit zu tun hat.

„Ich habe mich immer ein bisschen geschämt.“

In Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Bregenz realisieren Sie heuer eine Arbeit auf der Bielerhöhe auf über 2000 Meter. Ein Bergbach fließt durch Ihre Intervention über eine Brücke. Typisch für Ihr Werk: Sie kehren die Ordnung der Elemente um!

In Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Bregenz möchte ich eine Arbeit, die durch Ingenieure der Illwerke realisiert wird,  an einem Bergbach installieren. Dieser kommt durch einen Stollen von der Tiroler Seite der Bielerhöhe her. Ich lasse ich durch einen Feuerwehrschlauch einen Teil des Bachs ableiten. Das Wasser schießt dann aus einem Rohr im hohen Bogen über den Steg, der über den Bach führt, direkt in den Silvrettasee. Der Wasserstrahl wird damit sozusagen zu einem architektonischen Element und zur Skulptur. Der Druck, der sich dort durch die 60 Meter Höhenunterschied ergibt, war für mich das Interessante dabei. Das Physikalische erlebbar zu machen, steht für mich im Vordergrund und nicht unbedingt die Geschichte, die sich vielleicht daraus erzählen lässt.

In einem Interview meinten Sie einmal, dass Sie, wenn Sie solche „Ereignisse“ produzieren, sich ab und zu schämen und am liebsten weglaufen würden …

Innerlich möchte ich das. So eine Aktion vor Publikum, zum Beispiel etwas mit einer Sprengung, ist etwas ganz Besonderes, wenn gefühlt tausend Augen auf einen schauen. Wenn ich einen Film mache, bin ich viel gelassener. Es darf nichts passieren – wehe, wenn einem Zuschauer etwas zustoßen würde, dann ist man weg vom Fenster. Da war ich immer sehr vorsichtig. 

Sie sprechen gerade über den Aspekt der Gefahr und trotzdem gibt es ja offensichtlich noch etwas, was darüber hinausgeht, nämlich das Gefühl der Scham.

Ich muss mich immer noch daran gewöhnen, ich habe mich immer ein bisschen geschämt, so exhibitionistisch vor einem Publikum zu stehen. Ich war nie ein Performancekünstler, ich mache das nicht aus Eitelkeit, das sind ganz elementare Vorgänge.

„Das sind Skulpturen. Ich löse sie nur aus.“

Und die Scham besteht vielleicht darin, so etwas Gewaltiges zu tun, wie die Elemente umzulenken?

Ich will als ein Organisator des Ereignisses wahrgenommen werden. Ich löse es nur aus. Und erleide es. Ich habe immer gesagt, das sind Skulpturen und der Zuschauer sieht die Veränderung einer Skulptur. Vor allem in der Schweiz haben sie meine Sachen abschätzig „Spektakel“ genannt. In Frankreich hat das eine ganz andere Bedeutung, ein „Spéctacle“ ist eine Vorführung im Theater, das hat nicht diese negative Konnotation.  Ich habe eigentlich mit Aktionen aufgehört, ich mache meine Arbeiten für mich und nehme gemeinsam mit meiner Frau Aleksandra, die auch Künstlerin ist, lieber Videos davon auf.

Können Sie sich noch an die erste Arbeit erinnern, mit der Sie als Künstler nach außen gingen?

Für eine meiner ersten Arbeiten füllte ich Ton in einer Holzkiste, sprang von einem Stuhl hinein und erzeugte so mit den Fußabdrücken ein Zeugnis dieses Aktes. Diese Arbeit heißt „Selbstbildnis aus Gewicht und Fallhöhe“ und ist aus dem Jahr 1972. Ich habe diese Aktionen immer schon Ereignisse genannt, kleine Ereignisse. Dann habe ich mich aber von einem Philosophen belehren lassen, der meinte, es gibt keine kleinen Ereignisse, ein Ereignis ist immer groß. 

„Was ich als Kind gemacht habe, spielt in meine Arbeit hinein.“

Das, was Sie als Künstler machen, tun Kinder ja im Grunde auch sehr gerne. Sie lassen etwas fallen und testen mit Freude, wie die Schwerkraft funktioniert. Oder sie leiten leidenschaftlich gerne Wasser um, erzeugen Wind und zerstören mit Lust!

Kinder sind sensibel, intelligent und haben viel Fantasie. Was ich als Kind gemacht habe, spielt heute noch in meine Arbeit hinein.  (Aleksandra Signer aus dem Hintergrund: „Er ist einfach nicht von der Umwelt verdorben. Er ist wahrhaft!“) Kunst ist für mich ein Bedürfnis. In der Pubertät hieß es: „Jetzt musst du aus den Kinderschuhen heraus“, aber umschalten, das konnte ich nie

Ihre Kunst berührt, sie ist aber auch sehr humorvoll. Müssen Sie nicht manchmal selbst über ihre Ereignisse lachen?

Es ist nicht alles lustig, ich mache auch traurige Sachen.

Über die Aktion, die Sie gemeinsam mit dem Kunsthaus Bregenz auf der Bieler Höhe produzieren, also den Bach über die Brücke zu leiten, muss ich lachen. Das ist lustig!

Ist ja nicht verboten, zum Glück können wir noch lachen. Ich weiß nicht, wieso Sie darüber lachen, für viele Spaziergänger ist das vielleicht wie ein kleines Abenteuer unter diesem Bogen hindurchzugehen. Sie überwinden vielleicht ihre Angst, nass gespritzt zu werden. 


„Meine Arbeit ist Verschwendung.“

Es macht Spaß, wenn Dinge und Elemente etwas anderes tun, als sie sollen. Sie lassen Tische aus einem Haus fliegen, Sie leiten Wasser um, Ventilatoren bewegen Objekte. Was hat es mit den Regenschirmen auf sich, die Sie immer wieder in Ihren Arbeiten verwenden?

Ein Schirm ist wie ein Degen oder eine Rakete. Der fliegenden Robert im Struwwelpeter hat auch einen Schirm. Als Kind hat mich das erschreckt, wie er mit seinem roten Schirm wegflog, immer kleiner und kleiner wurde und plötzlich fort war, weil er nicht artig bei Wind und Wetter zuhause blieb. Der Tisch ist für mich sehr archetypisch. Jede Familie hat einen Tisch, an dem sie gemeinsam trinkt, isst und diskutiert. Ein Tisch hat für mich etwas von einem Tier, auch eine Kuh hat vier Beine.

Was macht Ihnen Angst?

Die Menschen. Die Natur weniger. Die ist unberechenbar und kann einem auch einen Streich spielen. Vor der habe ich Respekt. Bei meinen Aktionen habe ich aber keine Zeit für Angst. Es gibt immer eine ziemliche Spannung, die kaum zum Aushalten ist, man weiß nicht, ob im letzten Moment noch ein Spaziergänger kommt. 

Wie sollten wir uns zu Natur verhalten?

Man muss auf die Natur eingehen, den richtigen Moment finden und nicht blindlings irgendetwas mit ihr machen: lieben und beobachten. Dann lässt sie einen vielleicht in Ruhe. Man muss sie wie ein Lebewesen betrachten und darf keine Dummheiten machen.

„Vor der Natur habe ich Respekt.“

Was macht Sie glücklich?

Wenn etwas gelingt. Manchmal gehen Dinge auch in die Hose, dann muss ich überlegen, was ich falsch gemacht habe und probiere es ein zweites Mal. 

Was treibt Sie an, was möchten Sie unbedingt noch machen?

Ich weiß nicht. Es kommt immer alles spontan, ich mache keine Pläne. Eine Idee, die ich aber nicht mehr umsetzen werde, weil ich dafür bin zu alt bin, ist, mit einem Fallschirm und einem Regenschirm in der Hand aus dem Flugzeug zu springen und dann im Fall den Schirm zu öffnen. Das wäre schön. Das müsste von einem anderen Fallschirmspringer gefilmt werden. 

Gibt es ein Element, das Sie gerne beherrschen würden?

Mein liebstes Element ist Wasser. Dann kommt Feuer und Wind, Erde kommt bei mir nur in Form von Sand vor. In der Antike hatten sie ein fünftes Element: das Wetter.

Das wäre doch noch eine Aufgabe! Vielen Dank für das Gespräch!

Roman Signer (*1938) arbeitete lange als Hochbauzeichner, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Erst mit knapp 34 Jahren begann er seine Karriere als freischaffender Künstler in St. Gallen. Roman Signer nahm neben zahlreichen Ausstellungen unter anderem an der documenta 8 in Kassel (1987) teil und vertrat 1999 die Schweiz auf der der 48. Biennale in Venedig.

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