Herr Finnland & die Nestervals

Sind sie dazu bereit, eine Person zu opfern?

Nesterval ist eine Mischung aus urbaner Schnitzeljagd, Freilufttheater und Abenteuerspiel. Gegründet wurde die 30-köpfige Wiener Performancegruppe im Jahr 2011 von Regisseur Martin Finnland, der mit bürgerlichem Namen eigentlich ganz anders heißt. Aber das tut hier nichts zur Sache. In Kleingruppen tritt das Publikum gegeneinander an und wird mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen konfrontiert. Dirty Faust heißt die aktuelle Produktion mit dem BRUT WIEN, bei dem die Besucherinnen zwischen skurrilen Hotelgästen und hinterlistigem Personal einen Mörder enttarnen müssen. Wir trafen den leidenschaftlichen Theatermacher zu einem Gespräch.

Lisa Peres: Wie ist Dein Werdegang, und wie kam es zur Gründung von Nesterval?

Martin Finnland: In einer Reihe gescheiterter Experimente, unter anderem dem Versuch, mich als Autor auszuprobieren – ich habe leider gar kein Talent dafür –, habe ich mir mit Mitte Zwanzig gedacht, ich könnte doch klassische Theaterregie machen. Ich habe es dann haushoch nicht geschafft, am Max Reinhardt Seminar aufgenommen zu werden (lacht).
 2011 gründete ich schließlich Nesterval. Ich denke mir das Konzept aus und führe Regie. Frau Löfberg ist für das Skript und die Dramaturgie zuständig. Herr Walanka kümmert sich um die Ausstattung und die Szenografie.

„Selbst für die Darstellerinnen ist bis zur letzten Sekunde unklar, wie der Ablauf sein wird.“

Eure Performancegruppe hat mittlerweile schon um die 30 Mitglieder. Sind das alles professionelle Schauspielerinnen?

Nicht alle sind gelernte Darstellerinnen, nein. Nesterval ist wirklich ausschließlich innerhalb des Freundeskreises gestartet. Anfänglich mit Leuten aus meinem Performancekreis oder mit Freunden, die einfach nur ein unglaubliches schauspielerisches Talent besitzen. Von der Grafikdesignerin, der Standard-Abo-Verkäuferin über die Urologin, die Opernsängerin bis zur Tänzerin haben wir alles dabei. Diese Truppe vermischt sich dann mit den professionellen Schauspielerinnen.

Diese Mischung macht wahrscheinlich Nestervals großen Erfolg aus!

Absolut! Was wir einfach künstlerisch extrem schön erleben, ist dieses gegenseitige Befruchten und Antreiben – von allen Seiten. Jeder Einzelne hat seine Stärken und lernt vom anderen.

Wie kommt Ihr zu dem Namen Nesterval?

Der Name ist rein fiktiv, kommt noch aus meiner Zeit als erfolgloser Romanautor. Ich habe damals eine Geschichte geschrieben, in der der Abenteurer Philipp Nesterval hieß.

Der Ausgang ist bei jeder Vorstellung ungewiss?

Wir wissen selbst nie, wie es aussgeht. Es gibt am Ende sieben verschiedene Varianten, wer stirbt oder nicht stirbt. Das ergibt sich im Spiel und vor allem auch durch das Publikum. Wir haben das alles natürlich nicht nur erfunden, sondern aus Goethes „Faust“: Gott und Mephisto, die eine Wette um die Seele des Faust abschließen. Viel spannender ist es jedoch, Gott und Teufel über die Gäste entscheiden zu lassen. Für uns ist deswegen jeder einzelne Abend extrem abwechslungsreich.

Worum geht es in Eurem aktuellen Stück DIRTY FAUST?

Inspiriert von „Faust“ und Tanzfilmen aus den 1980er-Jahren begibt sich die Gruppe gemeinsam mit den Teilnehmerinnen auf eine Reise in die 60er-Jahre in das Hotel Nesterval. Dort begegnen sie skurrilen Hotelgästen, trügerischem Personal und müssen herausfinden, warum zwei junge Hotelangestellte sterben mussten.

Das heißt, die Zuseherinnen können das Spiel auch inhaltlich beeinflussen?

Je nach Stück und Ausgang gibt es Abenteuer, die fix vorgegeben sind. Da geht es wirklich nur um die Lösung des Spiels. Wir hatten aber auch schon Abenteuer, etwa vor zwei Jahren beim „Besuch der alten Dame“ von Dürrenmatt beim Steirischen Herbst, da bestand das Dorf quasi aus unseren Besucherinnen, und die mussten zum Schluss selber entscheiden, ob sie jemanden ausliefern oder nicht. Gewinnen konnten sie nur, wenn sie jemanden ans Messer lieferten. Das war extrem spannend, auch wenn es nur im Spiel ist. Sind sie dazu bereit, eine Person zu opfern? Und ja, sie haben sehr oft geopfert, will ich nur dazu sagen (lacht)!

„Wir geben dem Kind in uns eine Bühne!“

Wie koordiniert Ihr das alles?

Da gibt es natürlich Tricks, aber vor allem sehr viel Probenarbeit. Wir müssen ja alle Varianten durchgehen, wobei wir selbst immer wieder überrascht sind, wenn dann eine kommt, mit der wir selbst nie gerechnet hätten. Gleichzeitig freuen wir uns dann aber, wenn das Konzept aufgeht.

„Wer nicht spielt, lebt nicht“ – warum fasziniert die Leute dieses Spielen, ist das nicht auch sehr kindisch?

Total. Es ist extrem kindisch, aber hier treffen einfach zwei Komponenten aufeinander. Ich bin davon überzeugt, dass wir alle das Kind in uns haben, uns fehlt aber die Bühne, das auszuleben. Nesterval bietet diese Bühne, weil Du ja auch den Auftrag dazu bekommst. Du darfst Kind sein, Du musst sogar Kind sein. Nesterval lebt davon – je mehr man eintaucht, umso mehr bekommt man auch zurück. Das ist ein ganz wichtiger Trieb. Und den hat nicht jeder. Wenn man als Erwachsener an einem Spielplatz vorbeigeht und sich denkt: „Ist ja blöd, dass der jetzt nur für Kinder ist, warum gibt es das nicht in groß?“

Ist das reale Leben so langweilig?

Unsere Generation ist in der Welt des Internets groß geworden und hat die vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre mehr und mehr in einer virtuellen Welt gelebt. Umso schöner ist diese Entwicklung, die man langsam spürt, dass es eigentlich auch wieder zurück in die Realität geht.

„Wenn Kinder sich in einen Karton setzen und glauben, das ist eine Rakete.“

Das heißt für Nesterval ist gerade die perfekte Zeit?

Wenn wir das Konzept vor 40 Jahren gemacht hätten, wäre das vielleicht gar nicht so aufregend gewesen. Jetzt geht es aber darum, wieder das Abenteuer und Räume im echten Leben zu entdecken, plötzlich selber wieder Protagonistin zu sein und einfach nicht nur in der Anonymität der Social-Media-Kanäle unterwegs zu sein.

Zurück zum Analogen?

Wir waren immer sehr analog. Es hat genügend Leute gegeben, die meinten, bietet doch auch Apps an, aber nein, am liebsten habe ich es ganz altmodisch. Es ist in dem Sinne keine Schnitzeljagd, viel mehr ein Abenteuer. Du bekommst was Schriftliches, was Haptisches in die Hand und darfst dich auch mal wieder mit dir selbst befassen.

Was ist die Königsdisziplin für Dich?

Wenn Kinder sich in einen Karton setzen und glauben, das ist eine Rakete. Die Königsdisziplin für uns ist zu schaffen, dass die Leute glauben w o l l e n! Dass sie sich darauf einlassen, einfach gar nicht mehr überlegen, ist das jetzt Spiel, oder ist das logisch, sondern einfach nur mehr erleben. Alles relativ nackt auf sich einprasseln lassen und schauen, wie geht man damit um, wo will man mehr einschreiten, und wo hält man sich eher zurück?

„Bei einem einfachen Brettspiel mit Freunden sieht man auch schnell mal die hässliche Fratze.“

Die Zuschauerinnen können selbst entscheiden, wie weit sie gehen wollen?

Wir hatten mal ein Abenteuer auf der Jesuitenwiese im Prater, da wurden die Protagonistinnen von einem verrückten Clown gejagt. Eine Frau kam zu mir und meinte, sie müsse das Spiel jetzt abbrechen, möchte mir aber trotzdem gratulieren. Sie sei Anwältin und Mitte 30, sie wisse, dass das Schlimmste, was im sicheren Rahmen eines Spieles passieren könne, sei, dass sie vom Clown berührt werde und aus dem Spiel raus wäre. Mehr als das passiere ja nicht! Sie meinte, sie schaffe das emotional aber trotzdem nicht. Da denkst du dir: „Schon cool, wir sind tatsächlich in die Köpfe der Leute eingedrungen.“

Gab es schon (fast) echte Morde?

Gott sei Dank noch nicht (lacht). Eine schöne Anekdote ist das vielleicht nicht, aber bei einem Abenteuer, wo es darum ging, sich – von grauen Frauen verfolgt – bei Dunkelheit durch ein leeres Bürogebäude durchzukämpfen, gab es ein Pärchen, bei dem der Freund, als plötzlich so eine graue Frau auftauchte, so panisch wurde, dass er seine Freundin im Reflex direkt zu ihr hingeschupst hat und panisch weggerannt ist.

„Ich bin ein sehr gemeiner, ehrgeiziger Spieler.“

Oh, nicht die feine Art ...!

Die haben dann wirklich das Spiel abgebrochen und gestritten. Sie hat ihm vorgeworfen, was er denn für ein Mensch sei, sie in einer Notlage quasi den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen und selber davonzurennen. Das war dann wirklich fast ein bisschen unangenehm für uns, weil das ja eigentlich nicht das ist, was wir bei Nesterval bezwecken wollen.

Kannst Du beim Spielen gut verlieren?

Ich selbst kann ganz schlecht verlieren. Hier kommt eine meiner schlechten Eigenschaften zu Tage. Ich bin ein sehr gemeiner, ehrgeiziger Spieler, deswegen spiele ich auch nur mit meinen besten Freunden, die mich schon kennen und wissen, was sie erwartet.

Du bietest Nesterval auch Firmen an?

Ja, das machen wir. Man kann da sehr gut sehen, wie gruppendynamische Prozesse stattfinden. Du hast dann die Sekretärin, den IT-Techniker mit dem Marketingmitarbeiter und der Geschäftsführerin in einer Gruppe. Es ist spannend, wie sie miteinander arbeiten, wer sind die Alpha-Tierchen, wie werden Entscheidungen getroffen, werden sie richtig oder falsch getroffen? Das ist schon eine gute Möglichkeit, die Menschen in seiner Umgebung kennenzulernen. Aber das ist bei jedem Spiel so. Ein einfaches Brettspiel mit Freunden, da sieht man auch schnell mal die hässliche Fratze (lacht).

„Ich bin auch eine gute Hausfrau.“

Hast Du das Stück von Paulus Manker „Alma – A Show Biz ans Ende“ in Purkersdorf besucht?

Ich war vor vier Wochen zum ersten mal dort und fand es extrem spannend und schön aufbereitet. Dort bist du halt trotzdem nur Zuseher. Wir von Nesterval gehen noch einen Schritt weiter. Die Interaktion finden wir einfach ganz wichtig. Ich will, dass die Darstellerinnen dich als Besucherin plötzlich während des Stücks anschauen und fragen: „Was meinst Du denn dazu?“ Das regt einfach nochmal mehr an, weil es einfach auch ein zutiefst politischer Grundsatz ist, selbst aktiv zu werden.

Ihr macht bis zu 30 Projekte im Jahr. Arbeiten Eure Schauspielerinnen nur für Nesterval?

Eigentlich nicht. Jeder hat noch einen anderen Job. Dadurch hat sich mit der Zeit unser großes Ensemble ergeben, nicht jeder ist bei jedem Stück dabei. Aber alle kommen immer wieder, und es ist ein sehr familiäres Gefühl. Das unterscheidet uns sicher auch von anderen Kulturinstitutionen.

Gibt es einen Ort in Wien, den Du gerne noch bespielen würdest?

Von den großen Dingen haben wir wirklich fast alles durch, vom Riesenrad über den Narrenturm, der immer wieder toll ist. Ich würde sehr gerne mal ein Abenteuer im Zoo veranstalten. Ich bin ein sehr großer Tierfreund und finde den Tiergarten extrem schön. Auch die Hofburg wäre cool, mit ihren tausenden Zimmern, wo man sich verirren kann. Aber beides wird vermutlich nicht passieren. Damit kann ich aber auch gut leben (lacht).

Was macht Dich neben Nesterval noch glücklich?

Ich lese sehr gerne. Ich mag dicke Bücher, lange Geschichten, wo man richtig schön reinkommen kann. Im Moment lese ich gerade Donna Tartts „Eine geheime Geschichte“. Das ist die Autorin des „Distelfinks“, ein unglaublich tolles Buch! Fahrradfahren mag ich – ich habe schon eine neunmonatige Radreise durch Europa und Asien gemacht. Ich mache Yoga und habe angefangen zu backen. Ich in auch eine gute Hausfrau (lacht).

„Ich hatte eine wahre Bilderbuchkindheit ohne Handy.“

Hattest du eine schöne Kindheit?

Absolut, ja. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in Kaprun, das hat mich total geprägt. Ich hatte eine wahre Bilderbuchkindheit, mit barfuß den Bach entlang bis zur Quelle laufen, durch den Wald und Staudämme bauen. In einer wirklich so schönen sorglosen Zeit! Ohne Handy! Dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Mit zehn Jahren habe ich dann einen Super Nintendo geschenkt bekommen, was sich dann total ausgewirkt hat auf mich – bis hin zu meinem Schaffen heute (lacht).

Dein Lieblingsfilm?

Dogville von Lars von Trier! Ein unglaublich toller Film, der es einfach schafft, die Fantasie so unglaublich anzuregen. Wie bei Nesterval! Am Anfang die Verwirrung, und nach 20 Minuten denkst du nicht mal mehr nach.

Wo trifft man Dich in Wien?

Tagsüber im TOP KINO, da habe ich sehr oft meine Besprechungen, und man trifft mich sicher im Club U bei einem Rhinoplasty. Eines der kreativsten und coolsten Clubbings in Wien!



Spieltermine im Jänner:
9. bis 13. Jänner sowie 15. bis 19. Jänner, jeweils 18.30 Uhr 

Hotel Nesterval, Gellertplatz 7, 1100 Wien

www.brut-wien.at

www.nesterval.at

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