Die Wonder Woman

Torte als Problem

Gerti Drassl betritt das Foyer des Filmcasinos im 5. Bezirk, streckt uns die Hand entgegen und grüßt mit „Hallo, ich bin die Gerti!“ – die österreichische Ausnahmeschauspielerin steht für Film, TV, Theater und Hörbuch. Sie erhielt unter anderem eine Romy in der Kategorie „Shooting Star“, den Nestroy- und den Deutschen Schauspielpreis. Sie ist Vorstadtweib, sie ist Maria Theresia, sie ist aber vor allem eines: ungeschminkt authentisch.

„Diese Torte war für mich ein großes Problem! Ich kannte sie nicht einmal!“

Eva Holzinger: Maria versucht in der Serie „Vorstadtweiber“, die gerade in der 3. Staffel im ORF zu sehen ist, alle Probleme mit backen zu lösen. Malakofftorten sind ihre Spezialität. Haben Sie viele solcher Torten zur Vorbereitung gebacken, um in die Figur der Maria Schneider schlüpfen zu können?

Gerti Drassl: Um ehrlich zu sein: Diese Torte war für mich ein großes Problem! Ich kannte sie nicht einmal! Ich bin in eine Aida-Filiale gegangen, um sie dort zu kosten. Mir wurde als Schauspielerin die Zeit gegönnt, mich an diese Torte heranzutasten (lacht). Nein, im Ernst: Die Vorbereitung war ein langer Weg. Ich habe mich gefragt, ob es Menschen wie Maria wirklich gibt.

Es war sehr hochnäsig von mir, das zu bezweifeln. Natürlich gibt es sie! Aber nicht, weil sie oberflächlich sind, sondern im Gegenteil, weil sie tiefe Sehnsüchte haben, die sie nicht nach außen tragen können. Was hat sie dazu gebracht, so einen Panzer um sich zu bauen? Das ist für Maria Schneider ganz wichtig: die spezielle Kleidung, ihre Schutzschichten, wenn man so will, die sich im Laufe der Serie langsam „lösen“.

Warum ist die Figur Maria so ein Publikumsliebling?

Ich glaube, wegen eben jener inneren Sehnsüchte, die sich viele nicht zu zeigen trauen. Sie hat eine sehr tiefe Empfindsamkeit. Das ist mein Identifikationspotenzial – und ich denke auch das von vielen Zuseherinnen. Sehnsüchte hat schließlich jede. Und jede hat ein Recht darauf, sie auch zu leben. Ich würde mich selbst auch als einen sehr sehnsüchtigen Menschen beschreiben.

Und wie leben Sie Ihre Sehnsüchte?

Durch Reisen, gutes Essen und gemeinsame Zeit mit meinen Liebsten. Das ist für mich die Essenz des Lebens: Zeit miteinander zu verbringen. Das hat mir mein Südtiroler Elternhaus mit auf den Weg gegeben.

Der Kampf zwischen Innen und Außen spielt in „Vorstadtweiber“ eine ganz wesentliche Rolle: Doppelleben, Schein und Sein, Intrigen und Fassaden ziehen sich durch fast alle Charaktere. Lassen Sie sich gern in die Karten schauen?

Ich habe ein großes Verantwortungsgefühl meiner Privatsphäre gegenüber. Da kann ich einen Panzer aufbauen, weil es um Menschen geht, die ich liebe, wie meinen Ehemann oder meine kleine Tochter. Ich kann aber ganz schlecht verbergen, wenn mir etwas nicht passt. Mein Gesicht erzählt viel, das ist gut, wenn man Schauspielerin ist, aber kann im Leben auch manchmal ein Problem sein, weil ich nie verbergen kann, wenn mir etwas nicht passt oder ich etwas nicht gut finde.

Was halten Sie von dem Konzept Ehe? In „Vorstadtweiber“ scheint es ja nicht so gut zu funktionieren …

Für mich ist die Ehe kein Konzept. Ich bin selbst verheiratet. Mir persönlich war es wichtig, mit engen Freunden und meiner Familie diese Beziehung, diese Liebe zu feiern. Das ist doch etwas Wunderschönes.

Die Serie „Vorstadtweiber“ fasziniert verschiedenste Generationen: Nicht nur meine Großmutter und meine Eltern, sondern auch meine weiblichen und männlichen Freunde sind begeistert. Wie kommt’s? Liegt das Geheimnis gar hinter den Kulissen?

Der Regisseurin Sabine Derflinger war es bei der Entstehung der Serie besonders wichtig, dass das Team langsam wächst. Die behutsame Art des gemeinsamen Entwickelns und die unglaublich lange Vorbereitungszeit haben für eine großartige Ausgangssituation am Set gesorgt, die immer noch da und von außen vermutlich auch spürbar ist.

Das ist deshalb so wichtig, weil wir einen sehr strengen Zeitplan einhalten müssen. Wir drehen pro Tag etwa acht Minuten. Das klingt wenig, ist aber enorm viel. Es gibt einen sehr offenen und produktiven Austausch zwischen allen Abteilungen. Und weil diese Basis vorhanden ist, können wir auch improvisieren. Jede von uns fühlt sich frei, etwas auszuprobieren. Obwohl die Zeit so knapp ist, gibt es diese Möglichkeit. Und das ist schon sehr ungewöhnlich!

„Mein Gesicht erzählt viel, das ist gut, kann aber ein Problem sein.“

Schauen Sie selbst „Vorstadtweiber“?

Doch, das mache ich schon, auch weil ich davon lernen kann. Ich stelle mir dann immer die Frage: Glaube ich mir, was ich da spiele? Kaufe ich mir das ab? Und wenn nein, warum nicht?

Ist dann eine Arbeit für Sie gelungen? Wenn Sie sich selbst glauben?

Ich habe ganz selten das Gefühl, dass eine Arbeit gelungen ist. Außer es ist zehn Jahre her, und ich mit einer gewissen Großzügigkeit mit mir selbst zurückblicke. Wenn ich andere Serien oder Filme schaue, möchte ich mich allerdings lieber nur zurücklehnen und genießen. Da analysiere ich nicht.

Haben Sie ein Vorbild?

Alle Menschen, die nie ihr Interesse und ihre Offenheit verlieren. Inge Konradi, Schauspielerin und eine meiner ersten Lehrerinnen am Max Reinhardt Seminar, war so ein Mensch. Sie hat alles erlebt, Krieg zum Beispiel, und hat sich trotzdem nie verschlossen. Das ist das Schönste an meinem Beruf: Dass er dich zwingt, andauernd weiterzulernen. Man schlüpft in Menschen hinein und muss sie verstehen. Schafft man das, kann man damit Geschichten erzählen. Deshalb bin ich vom Ballett zur Schauspielerei gewechselt.

„Ich habe ganz selten das Gefühl, dass eine Arbeit gelungen ist.“

Die Filmbranche hat den Ruf, dass es viele große Egos und ausgeprägte Hierarchien gibt ...

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass zu große Egos deswegen zu groß sind, weil sie Angst haben und genauso unsicher sind wie alle anderen, nur gehen sie eben auf diese Art und Weise damit um. Wenn man sich das bewusst macht, ärgert man sich nicht mehr so über sie.

Die #MeToo-Debatte wurde ja von ihrer Vorstadtweiber-Kollegin Nina Proll kritisiert. Haben Sie selbst übergriffiges Verhalten erlebt?

Nein. Aber ich habe mittlerweile viele Geschichten gehört. Nicht nur von Schauspielerinnen, sondern auch aus den Bereichen Maske oder Kostüm. Es ist so wichtig, dass das jetzt alles ans Licht kommt und wir darüber reden. Der Kern daran ist doch: Wie gehen wir mit Macht um? Jede von uns hat selbst manchmal die Macht. Bin und bleibe ich dann auf einer menschlichen Ebene? Wir haben jetzt die Möglichkeit, diese Chance zu nutzen und die Gesellschaft zu hinterfragen. Und das ist den Menschen zu verdanken, die darüber sprechen.

„Ich habe nicht einmal WhatsApp! Mich stresst das nur!“

Der Begriff „Weib“ ist mittlerweile sehr negativ konnotiert. Welche Stellung haben die Frauen in der Serie? Was macht sie aus?

Es sind starke Frauenfiguren. Jeder Mensch, der Gefühle stark lebt und sie auch von anderen einfordert, ist für mich eine starke Persönlichkeit. Empathisch zu sein, ist zwar an sich noch kein Feminismus, aber zutiefst menschlich, und genau das macht diese Figuren aus.

Nichtfeministisch ist natürlich die Denke „Ich brauche einen Mann, um zu existieren“. Aber die Serie ist meiner Meinung nach so geschrieben, dass man von außen, als Zusehende, immer mehr denkt: „Ihr braucht doch gar keinen Mann, nur euch selbst und eure Wünsche!“ Die Geschichte der Vorstadtweiber stellt Fragen, regt zum Nachdenken an. Das ist für mich der feministische, starke Moment dieses Projekts.

Die #Metoo-Bewegung hat sich größtenteils online organisiert. Nutzen Sie Social Media?

Nein, gar nicht. Ich habe nicht einmal WhatsApp! In dieser Hinsicht fühle ich mich ziemlich alt. Aber mich stresst das nur, es macht mich müde und lustlos. Während meiner letzten Asien-Reise habe ich Leute gesehen, die gemeinsam an einem Tisch saßen, aber nur auf ihre Bildschirme gestarrt und kein Wort miteinander gesprochen haben. Am Set von „Vorstadtweiber“ hatten wir so eine Fake-Dating-App, mit der man Menschen wie bei Tinder wortwörtlich wegwischen konnte. Alle haben mich ausgelacht, weil ich einfach nicht damit umgehen konnte! Irgendwann wird der Tag kommen, an dem Maschinen alles besser können als wir – dann unterscheidet uns nur noch die Empathie voneinander.

„Ich glaube nicht, dass ich spießig bin. Das Einzige, was ich mit der Figur Maria gemeinsam habe, ist das Kochen.“

Gibt es eigentlich Parallelen zwischen Ihnen und Gerti? Wer ist spießiger?

Ich glaube nicht, dass ich spießig bin. Das Einzige, was ich mit der Figur Maria gemeinsam habe, ist das Kochen. Manchmal versuche ich auch, damit Probleme zu lösen oder zumindest besser zu machen. Ich habe wirklich lange gebraucht, um diese Figur zu verstehen. Anfangs ging sie mir nur auf die Nerven. Das Serienformat ist schon toll, weil es der Rolle Platz für Entwicklung gibt, die sie durchmachen darf. Manchmal geht sie zwei Schritte zurück, aber sie geht ihren Weg, zum Beispiel verlässt Maria ihren schrecklichen Mann.

Was bedeutet für Sie spießig?

Festgefahren zu sein. Das stört mich irrsinnig. Wenn jemand etwas abgeschlossen hat, obwohl die- oder derjenige noch mitten im Leben steht. Ich kann sehr stur sein, das ist eine meiner Schwächen. Früher dachte ich immer, stur zu sein ist eine gute Qualität, weil man sich dann durchsetzt. Mittlerweile sehe ich das anders, Sturheit schränkt auch ein.

Was meinen Sie genau damit? Ist unsere Gesellschaft spießig?

Ich glaube, dass es zurzeit eine große Sehnsucht nach Sicherheit gibt. Aber Sicherheit ist nicht unbedingt nur ein Umfeld oder etwas Materielles, das ist auch etwas Inneres. Es ist ein zutiefst menschliches Gefühl, sich sicher und geliebt fühlen zu wollen. Wie Maria.

„Unsicherheit gehört zu meinem Beruf.“

Wovor haben Sie Angst? Vor Unsicherheit?

Früher war ich unsicher. Meine ersten Findungsjahre in Wien nach der Matura waren sehr filigran: Ich war oft einsam, musste mich neuorientieren. Mittlerweile kann ich gut mit einer gewissen Unsicherheit leben, sie gehört zu meinem Beruf. Angst habe ich trotzdem. Und zwar zum ersten Mal in meinen 20 Jahren in Österreich. Weil sich der Umgangston hier unglaublich verändert hat. Es macht mir Angst, dass es so wenig Empathie gibt. Ich versuche, dieser Angst immer mit Ruhe und Verständnis entgegenzutreten. Meine größte Angst ist, dass ich mich irgendwann verschließe. Ich möchte immer menschlich, offen und empathisch bleiben, egal, was mir entgegenkommt an Wörtern oder Umgangsformen.

Reicht es, jeden Sonntag auf eine Demo zu gehen?

Diese Frage stelle ich mir auch immer. Ich möchte auf keinen Fall in eine Ohnmacht kippen. Wir sollten jedenfalls keine Angst haben, wir müssen unseren – geschenkten – Wohlstand nicht verlassen, wenn wir anderen helfen oder für etwas eintreten. Je offener wir bleiben, desto mehr kommt zurück. So ist das Leben.

Mit Liebe antworten?

Es ist der schwierige Weg, aber ja! Zuhören. Aufeinander eingehen. Miteinander reden. Wie in einer Beziehung. Das würde ich mir übrigens auch von unserem jungen Bundeskanzler wünschen, der ja alle Voraussetzungen dafür hätte. Ich erwarte von ihm, diese Schranken im Kopf nicht zuzulassen.

„Zuhören. Miteinander reden. Ich erwarte mir das auch von unserem jungen Bundeskanzler.“

Mögen Sie es, wenn Menschen Dialekt sprechen?

Ja, und zwar egal welchen. Sprache kann so viel verraten. Wenn ich Politiker reden höre, dann ist das selten in einem ruhigen Ton. Sie haben immer einen gewissen Druck in der Stimme, da fällt es mir schwer zuzuhören. Der Duktus, der Ton ist immer derselbe, wie bei Priestern, weich, aber überheblich. Sprache fasziniert mich! Deshalb produziere ich auch so gerne Hörspiele.

Immer wieder kommt sprachlich Ihre Südtiroler Herkunft durch. Was ist Heimat für Sie?

Heimat ist so ein unglaublich konnotierter Begriff, den verwende ich gar nicht mehr. Ich sage „Dahoam“: Das war lange Zeit örtlich bezogen, ist es aber nicht mehr. Es hat vielmehr mit Erfahrungen zu tun, mit anderen Menschen.

Dialekt wiederum ist für mich eine eigene Sprache. Dialekt sitzt ganz tief, im Bauch. Wenn ich früher nach der Schrift gesprochen habe, war meine Stimme viel höher, sie kam aus dem Hals. In der Schauspielschule wollte meine Sprachtrainerin, dass ich zwei Jahre lang keinen Dialekt mit meiner Mutter spreche, um davon loszukommen. Das hat natürlich überhaupt nicht funktioniert! Gott sei Dank, denn wenn ich heute Rollen entwickle und die Figur nicht spüre, dann wechsle ich oft in den Dialekt, um die Blockaden zu lösen. Es ist eine Art Brücke zur Figur.

Wir sind hier im Filmcasino, das 1935 übrigens arisiert wurde, seine früheren Besitzer wurden im KZ ermordet. Heute 50er-Jahre-Architektur zeitgeistig mit Dekorationsmalerei. Als Schauspielerin reist man durch verschiedene Zeiten. In welchem Zeitalter würden Sie gerne leben?

Trotz allem: im Jetzt. Die 20er-Jahre finde ich spannend, modisch, auch weil damals eine ziemliche Aufbruchsstimmung herrschte. Aber ich würde diese Epoche nur besuchen und nicht darin leben wollen.

„Dialekt sitzt ganz tief, im Bauch.“

Was wollten Sie eigentlich als Kind werden?

Alles! Archäologin, Anwältin, Ärztin, Bäuerin, Lehrerin, Sekretärin. Ich glaube, deswegen bin ich auch Schauspielerin geworden.

Ihre schönste Kindheitserinnerung?

Das ist schwer zu beantworten, meine Kindheit in Südtirol war so wunderschön, ich bin sehr behütet aufgewachsen. Aber wahrscheinlich die Zeit, die ich draußen in der Natur verbracht habe. Meine Familie in Bozen besitzt Weinberge, ich war auch viel im Wald. Wenn mein Cousin und ich beim Äpfelklauben mithelfen mussten, haben wir früher oder später immer die Lust verloren, und dann haben wir Wonder Woman gespielt. Die Serie aus den 70er-Jahren habe ich geliebt! Ich habe auch vor kurzer Zeit den aktuellen „Wonder Woman“-Film von Patty Jenkins gesehen und war begeistert. Ein Actionfilm mit einer tollen Frauenfigur, die zwar hart kämpft, aber für die Liebe immer an erster Stelle steht. Das hat mich fasziniert.

Das Filmcasino wäre übrigens fast einmal ein Supermarkt geworden: Ende der 1980er-Jahre verhinderte das ein Petition, die unter anderem von der österreichischen Künstlerin VALIE EXPORT und Medientheoretiker Peter Weibel unterzeichnet worden war. Was wären Sie, wenn Sie keine Schauspielerin wären?

Das kann man nie sagen, aber mir gefällt der Gedanke, ein eigenes kleines Café zu betreiben, wo sich solche Leute treffen, die Sie eben genannt haben. Damit könnte ich dann auch meine Leidenschaft fürs Kochen verbinden. Das Kochen hat auch insofern mit meinem Beruf zu tun, weil dabei immer etwas Neues entsteht. Neues, aber auch Flüchtiges. Wie im Theater. Kochen und schauspielern können gut gelingen oder eben nicht. Und im Endeffekt geht es dabei immer um ein gemeinsames Erleben im Moment.

Vielen Dank für das Gespräch!

Infos über Gerti Drassl und eine Showreel gibt es hier!

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