Die Fotojournalistin

Rote Drachen, Diktatoren & Frankenstein

Sie war eine Legende. Sie wohnte der Beerdigung von Martin Luther King bei, campierte nach John Kennedys Tod eine Nacht vor dem Weißen Haus und nahm neben Indira Gandhi Platz: Die in Wien geborene Fotojournalistin Lisl Steiner (1927-2023) hielt mit ihrer Kamera fast ein ganzes Jahrhundert Zeitgeschehen fest. Vor dem Zweiten Weltkrieg emigrierte ihre Familie nach Buenos Aires, dann lebte sie in  New York. Unser Fotograf Bela Borsodi besuchte sie dort für uns und wir erreichten sie per Videocall. Über Diktatoren, langweilige Genies und unglückliche Stars

„Hast Du viele Fans? Tausende! Die werden alle weinen, wenn ich abtrete.“

Lara Ritter: Du bist DIE Pressefotografin des 21. Jahrhunderts. Hast Du viele Fans?

Lisl Steiner: Hunderte, tausende! Die werden alle weinen, wenn ich abtrete. 

Da bin ich mir sicher. Du hast es geschafft, einige der größten Berühmtheiten des vergangenen Jahrhunderts vor die Linse zu bekommen. Wie gelang Dir das?

Das war leicht in den 60er-Jahren. Ich brauchte genau zehn Minuten, um im Weißen Haus zu sein. Dort saßen alle Journalisten im „Fish Room“ am Boden und stellten den Politikern Fragen. Jeder von denen wollte damals fotografiert werden, die machten alle mit. Heute sind die Leute viel misstrauischer, es gibt viele Reporter, die das Vertrauen, das ihnen entgegengebracht wurde, missbrauchten. 

Sogar die ganz großen Stars waren „fotografierwillig“?

Die meisten sahen ein, dass Publizität ihnen gut tut, sie sagten höchstens: „Get it over with.“ Einmal saß ich vor Indira Gandhi, der Premierministerin Indiens, bei einer Versammlung der United Nations. Ich rief „Madame Gandhi!“ und sie lächelte mich an. Dann verscheuchte ich die zwei Männer, die neben ihr saßen, und als sie futsch waren, wurde es sehr intim. Sie nahm sich Zeit, alle meine Fragen zu beantworten. Später wurde sie bekanntlich ermordet. 

Indira Gandhi wurde auf dem Weg zu einem Interview mit dem Fernsehsender BBC erschossen, dieses sollte der berühmte britische Regisseur Peter Ustinov führen. Während Ustinov auf das Gespräch wartete, sprach er in die Fernsehkamera, dann fiel plötzlich ein Schuss im Hintergrund.

Das Leben ist tragisch! Es ist keine Komödie. Ich habe eine Reihe Todgeweihter fotografiert, darunter Persönlichkeiten wie J. F. Kennedy oder Martin Luther King. Wenn du berühmt bist, ist die Möglichkeit groß, dass es zu Mord und Totschlag kommt. 

„Ich wollte kein Geschäft aus dem Mord am Präsidenten machen.“

Du warst bei vielen Begräbnissen vor Ort.

Am Tag von Kennedys Ermordung campierte ich eine Nacht vor dem Weißen Haus. Viele Politiker kamen zu mir und wollten, dass ich sie vor seinem Sarg fotografiere, der nach Washington überführt worden war. Die wollten mich dafür bezahlen, aber ich wollte kein Geschäft aus dem Mord am Präsidenten machen und fotografierte nur für mich. 

Zu fotografieren begannst Du, als einer Deiner Liebhaber Dir eine Leica schenkte. Wie kam Dein erstes bekanntes Foto vom argentinischen Präsidenten Pedro Eugenio Aramburu zustande?

Ich reiste ihm in einem winzigen Flugzeug hinterher! Dann fotografierte ich ihn beim Fliegenfischen. Die Fotomagazine „Time“ und „Live“ waren begeistert: „Außergewöhnlich! Ein fischender Präsident“, und veröffentlichten das Bild. Das wurde mein Durchbruch.

„USA? Ein Scheißland.“

Später fotografiertest Du unter anderem Fidel Castros Stiefel.

Das war 1957, Castro logierte in einem Hotel in Buenos Aires, Argentinien, und laborierte an einer Grippe. Ich drückte mich auf dem Gang des Hotels herum und da saß ein Hotelboy, der Schuhe putzte. Ich fragte ihn: „Wessen Stiefel sind das?“, und er sagte „Fidels!“ Da fotografierte ich ihn mit den Stiefeln und die Stiefel allein. Im Moment ist der Castro wieder nicht beliebt. Seinen Sohn Fidelito fotografierte ich in einer amerikanischen Schule, da war er elf Jahre alt, später war ein Spezialist für Kernphysik. Vor drei Jahren hat er Selbstmord begangen. Auch Ernest Hemingway brachte sich um, insgesamt sieben Leute aus seiner Familie. Er hätte noch zig Bücher schreiben können. Aber berühmte und geniale Menschen sind oft sehr unglücklich. 

Wieso?

Sie haben eine schreckliche Kindheit, wenig Privatleben, komplizierte Liebesaffären. Es gibt hundert Gründe, unglücklich zu sein. 

Bist Du glücklich mit Deinem Leben?

Ja!

1927 wurdest Du in Wien geboren, als Du elf Jahre alt warst, emigrierte Deine Familie nach Buenos Aires. Dein erster Wienbesuch nach der Emigration fand mit Anfang vierzig statt, Anlass war ein Besuch bei einem Freund, dem bekannten Pianisten Friedrich Gulda. Heute bist Du regelmäßig in Wien zu Gast, einmal im Jahr, soviel ich weiß. Der österreichischen Nationalbibliothek hast Du dein gesamtes fotografisches Archiv und Deine Skizzensammlung gestiftet. Was sind Deine Kindheitserinnerungen an Wien?

Einmal saß ich auf den Knien von Adolf Loos. Großer Architekt. Er war ein Freund meines Vaters. Jedes Mal, wenn ich einen Architekten treffe, erzähle ich das und die sind alle sehr beeindruckt (lacht). In die Schule ging ich mit den Töchtern vom Dollfuß. Vor ein paar Jahren dachte ich mir, ich werde versuchen, sie zu erreichen. Das hat nicht geklappt, die sind alle begraben, neben ihm. Meine Kindheit und Jugend waren jedenfalls sehr schön. Ich war Einzelkind, meine Eltern waren lieb und oft verreist, sie ließen mir viele Freiheiten. 

Du wohnst heute in Manhattan, New York. Wie lebt es sich dort?

Ich möchte bald wieder nach Wien kommen, Amerika ist im Moment so grässlich. Es sollte „Desunited States of America“ heißen, ein Scheißland.

In Wien ist es schöner?

Wien ist meine Heimat, hier es ist immer wunderbar. Wenn ich in der Stadt bin, wollen alle mit mir frühstücken. Ich werde auch jedes Mal an Die Graphische eingeladen, um dort über meine Fotografie zu erzählen. Da passierte einmal etwas ganz Liebes. Ein junger Mann kam, sehr fesch, blonde Haare, groß. Was hatte er unter seinen Armen? Mein Fotobuch! Ich unterschrieb es ihm. 

„Ich ziele wie mit einem Gewehr und schieße.“

Du reist nach wie vor viel und betreibst auch einen Instagram-Account. Dein iPhone 12 hast Du ständig bei Dir, sei es zum Facetimen oder Fotografieren. Ganz schön technikfit für 94 Jahre!

Ja, aber mein iPhone ist grauenhaft. Es weiß, dass ich ihm nicht gut gesinnt bin und macht mir Schwierigkeiten. Ich will mein Leben nicht mit Maschinen beenden, sondern mit Menschen und Humanität.

Wie human ist die heutige Welt?

Gar nicht, die ganze Welt ist verrückt und alles dreht sich nur ums Geld. Ich war in meinem Leben nie reich, aber Gott sei Dank auch nie arm. Jetzt stehe ich am Ende meines Lebens und bin sehr zufrieden mit mir. Ich habe mich zu den Menschen immer gut verhalten – fast immer. Aber: Du kannst nicht alle als Liebhaber haben und es gibt Menschen, die eifersüchtig und böswillig sind. Die muss man überleben. 

Das hast Du geschafft! Durch die Fotografie, hast Du einmal gesagt, kannst Du die hinter der Situation verborgene Wahrheit entdecken. Wie fängst Du diese Wahrheit ein?

Ich ziele wie mit einem Gewehr und schieße. Ich mache nie nur ein Foto, sondern immer mindestens zehn, und auf einmal wird eines wunderbar. Zufall ist wichtig, beim Fotografieren passieren Unfälle, die sehr lustig sein können. Das Wichtige ist, im richtigen Augenblick abzudrücken. Man muss dafür ein gutes Auge haben, den richtigen Instinkt. Manche Momente kommen nie wieder. Ich war bei Events immer vor allen anderen Fotografen vor Ort .

„Sanft und ruhevoll.“

Auch den berühmten Fotografen Henri Cartier-Bresson bekamst Du in New York durch Zufall vor die Linse …

… er stand auf der Straße vor einem Hotel, ich hatte ihn nie zuvor in Person gesehen. Er hatte keine Kameratasche dabei, aber ich kannte ihn von Fotos und dachte: Das muss Cartier-Bresson sein! Später, als wir uns bereits kennengelernt hatten, kaufte ich in der Rotenturmstraße in Wien einen roten Drachen für ihn. 

Ein ungewöhnliches Geschenk!

Ich wollte ihn in Südfrankreich besuchen und wir wollten den Drachen dort gemeinsam steigen lassen. Er starb leider. Das Geschenk erreichte ihn nicht mehr. Tote Leute lassen keine Drachen steigen. 

Es scheint, als seist Du oft mit dem Tod konfrontiert gewesen. Als Dein Mann Michael Meyer Monchek, mit dem Du 24 Jahre lang verheiratet warst, nach einem Schlaganfall im Sterben lag, filmtest Du ihn acht Stunden lang im Gespräch. Wieso?

Weil es sehr ästhetisch war. Es war Frühling, als er starb, meine Katze, mein Hund und Blumen waren da. Im Sterben war sein Gesicht noch immer schön. Eine Freundin zeichnete ihn. Er hatte zwei Pfleger, die drehten ihn um zwei Uhr in der Nacht um. Sterben ist nicht leicht. Aber er hatte einen guten Tod. Er war etwas böse, weil die Leute nicht von der Szene abtreten wollen. Sie wollen weiterleben. Aber der Körper funktioniert irgendwann nicht mehr. Ein sehr großer Editor in Hollywood wird den Film jetzt schneiden. 

Auch Monchek, der aus Brooklyn kam, hatte einen Bezug zu Wien. Er hatte hier Psychoanalyse studiert ...

... sein Vater war Gemüsehändler und seine Brüder verkauften Spielwaren. Sie waren Millionäre. Meyer Monchek arbeitete nur brav mit Leuten, die Probleme hatten. Ich erfuhr von ihm, als ich mit einer Frau beim Hudson River picknicken war, die meinte: „Ich kenne einen Mann, dessen Frau ihm gerade mit seinem Cousin nach Israel davongelaufen ist.“ Ich sagte: „Sag ihm, er soll zum Kaffee kommen.“ Er kam, ich schaute ihn an und schleppte ihn mit zum Herrenausstatter Brooks Brothers, wo der Hemingway immer seine Ausrüstung für Afrika kaufte. Ein Jahr später waren wir verheiratet. Er hatte zwei Söhne, aber ich spielte nie Stiefmutter, das liegt mir nicht. 

Sein Penis war Dein Lieblingsfotografieobjekt. Ganz schön gewagt für die damalige Zeit?!

Leute haben so komische Vorstellungen davon, was man machen kann und was nicht. Er hatte einen sehr schönen Penis. Ich fotografierte ihn nicht erigiert, sondern sanft und ruhevoll. 

„Sein Tod war sehr ästhetisch.“

Vor Deiner Kamera stand auch der Diktator Jorge Rafael Videla, der in Argentinien von 1976 bis 1981 ein Schreckensregime führte.

Er warf 30.000 junge Leute ins Meer. Ein grässlicher Kerl. Aber diese Leute können alle sehr charmant sein. Videla wollte mich bezirzen und hätte gerne gehabt, dass ich mit ihm schlafe, aber ich habe solche Sachen nie gemacht. Ich musste sehr geschickt sein, damit solche Leute nicht böse wurden. Wenn eine Frau einen Mann nicht mag, bekommt er ein Minderwertigkeitsproblem und will sie bestrafen.

Wie gingst Du mit den Leuten vor Deiner Kamera um?

Ich stellte ihnen Fragen. Hat man das Talent, mit Leuten umzugehen, weigern sie sich nicht, zu antworten, und wenn sie sich öffnen, ist es leichter, sie zu fotografieren. Hie und da waren sie auch sehr uninteressant. Jemand kann ein großer Musiker sein und doch kein großer Mensch. Arthur Miller, der Marilyn Monroe heiratete, hatte einen Sohn, dessen Kopf nicht auf seiner Schulter war. Er hat ihn nie besucht. Nicht alle berühmten Leute sind liebe Menschen. 

Warst Du oft eingeschüchtert?

Nein, die machten ja genau das, was ich machte. Man sollte nicht glauben, dass man die Erfindung Gottes sei. Wer’s glauben will, kann’s glauben, aber ich bin nicht wichtiger und unwichtiger als jemand anders. Wir machen alle dasselbe. 

Vielen Dank für das Interview!

lislsteiner.com

Lisl Steiner wurde 1927 in Wien geboren und starb im Juni 2023. 1938 emigrierte ihre Familie nach Buenos Aires, Argentinien. Von 1945 bis 1953 arbeitete sie in der argentinischen Filmbranche an der Produktion von über 50 Dokumentationen mit. Die Veröffentlichung eines Fotos in den renommierten US-amerikanischen Magazinen Life und Time, das den argentinischen Präsidenten Pedro Eugenio Aramburu beim Fliegenfischen zeigt, war 1957 ihr Durchbruch als Fotojournalistin. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte fotografierte sie einige der bekanntesten Musikerinnen und Politikerinnen ihrer Zeit und veröffentlichte ihre Fotos unter anderem in der New York Times. Für ihr Jahrzehnte umspannendes Herzensprojekt Children of America reiste Steiner außerdem durch ganz Amerika und fotografierte Kinder aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Sie teilte ihr Leben auf ihrem noch aktiven Instagram-Account @lisl_steiner.

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