Die Anna von Rüden

Alter ist bedeutungslos

Zwischen 15 Enkelinnen und High-Fashion-Editorials – das ist das Leben von Anna von Rüden. Das 73-jährige Model aus Berlin macht seit 20 Jahren die Fashion-Szene unsicher: Sie steht für Gucci, Dolce & Gabbana und Co vor der Kamera, ziert unterschiedliche Indie-Cover, ist ein fixer Bestandteil der Berlin Fashion Week. Wir treffen sie in ihrer Berliner Wohnung inmitten von Kunst und Kinderzeichnungen und sprechen mit ihr über Falten, die Persianer-Hüte ihrer Großmutter, die Liebe und den Tod.

„Die Retusche ist mein persönliches Ungeheuer!“

Elisa Promitzer: Was magst Du am liebsten an Dir?

Anna von Rüden: Meinen Mund. Man atmet, spricht, lebt und liebt mit ihm. Egal ob schmallippig, nach unten gezogen oder staunend, der Mund ist eine Äußerlichkeit, die intimer ist, als man glaubt.

Apropos intim: Bei einem Shooting liegst Du nackt am Strand. Du wirkst im Einklang mit Dir selbst.

Da war nur ein leerer Strand, der deutsche Fotograf Peter Kaaden, eine Make-up-Artistin und ich. Es ging nicht um Schönheit im klassischen Sinne, es ging um das Einssein mit der Natur. Ich lag im Sand, ohne Posen, wortwörtlich ohne allem. Das klingt kitschig, während der Sand an meiner Haut klebte, realisierte ich, woher ich komme und wohin ich wieder gehen werde. 

Gearbeitet hast Du in einer Kindertagesstätte in einem sozialen Brennpunkt und bist im Alter von 50 Jahren in die Modewelt gewechselt. Wie kam es dazu?

Ich modelte bereits in jungen Jahren, das war damals nur eine Nebenbeschäftigung. Ich wollte unbedingt Kinder und hielt nicht nach dem großen Modeljob, sondern nach einem Mann Ausschau (lacht). Heute – vier Kinder, eine Scheidung und 15 Enkelkinder später – bereue ich nichts. Vor etwa 20 Jahren wurde ich, klischeehaft und zugleich unspektakulär, auf der Straße von einem Model-Agenten angesprochen. Meine Kinder waren schon groß, die Chance kam zur richtigen Zeit und ich ergriff sie. 

„Bei der Arbeit lasse ich mir nicht gerne die Butter vom Brot nehmen!“

Dein erster Modeljob …

… war seiner Zeit wortwörtlich voraus. Ich wurde für ein Fashion-Editorial im Magazin „Ahead“, das es nicht mehr gibt, abgelichtet. Ich hatte zentimeterkurze Haare, sehr androgyn. Später kamen auch kommerzielle Jobs für so „richtige“ Frauenmagazine, eher Damen-Magazine, da reden wir jetzt mal nicht drüber.

Welcher Modeljob stimmt Dich am emotionalsten?

Am liebsten arbeite ich mit jungen Menschen zusammen. Im Jahr 2023 flog ich nach London, um bei einer Show für das Central Saint Martins College of Art and Design zu laufen. Das ist einfach erfrischend und alles irgendwie so schön spontan, was bei vielen professionellen Modeljobs, die bis aufs Kleinste durchgeplant sind und bei denen nichts mehr dem kreativen Zufall überlassen wird, mittlerweile total verloren gegangen ist.

„Am liebsten arbeite ich mit jungen Menschen zusammen.“

Und welcher Job brachte am meisten Geld?

Am lukrativsten war mein Shooting für Gucci, davon habe ich wirklich lange gezehrt. Nicht nur finanziell, sondern auch persönlich. Ich lernte Alessandro Michele kennen, damals noch Kreativdirektor von Gucci, der in Italien wie ein Gott verehrt wird.

Was war das für ein Shooting?

Ein Fashion-Video für einen Lippenstift. Dieser Job ging über eine längere Zeit, für eines der Videos bekam ich 1,3 Millionen Klicks auf Instagram.

Wow, Gratulation! Gucci, das Paradies der Modelwelt?

Ich hatte noch nie in meinem Leben so eine große Auswahl an Kleidung und Accessoires. Es war wirklich wie im Paradies. Ich trug ein grünes langärmliges Kleid mit Silberbesatz. Es begann bereits bei den Vorbereitungen: An einem Tag wurden die Fingernägel hergerichtet, an einem anderen diverse Frisuren getestet, an einem weiteren Kleidungsstücke anprobiert. Und am letzten Tag das Make-up. Ich war für den Shoot zweimal in London: Da wurde wirklich geschuftet, von allen Seiten. All das wurde nicht nur mit Geld belohnt, sondern auch mit einem roten Herzen von Alessandro Michele unter meinem Instagram-Beitrag.

„Heute – vier Kinder, eine Scheidung und 15 Enkelkinder später – bereue ich nichts.“

Hast Du auch negative Erfahrungen gemacht? Wollten Dich Fotografinnen im Nachhinein jünger retuschieren?

Die Retusche war am Anfang meiner Arbeit mein persönliches Ungeheuer. Sowohl Fotografen als auch Fotografinnen hatten Angst vor Falten. Es wurde geglättet, was nur ging. Auf manchen Fotos erkenne ich mich selbst nicht wieder. Bei einem Shooting sollte ich etwas Ärmelloses tragen, man sah meine Falten unter den Armen und die Fotografin meinte nur: „Das brauchen wir nicht!“ Das passiert heute nicht mehr. Da hat sich zum Glück viel verändert. Diesen Glattgebügelt-Sein-Trend halte ich für Quatsch.

Du hast schon mit 30 Jahren graue Haare bekommen. Warst Du je in Versuchung, etwas an Dir machen zu lassen?

Nein, ich würde mich mir selbst gegenüber unehrlich fühlen. Ich schminke mich privat nicht. Das Einzige, was ich an mir „machte“, waren meine Haare. In meiner Studienzeit färbte ich sie mit Henna rot, als ich meine ersten grauen Haare bekam, ließ ich mir fünf blaue Strähnen färben. Meine Großmutter trug immer weiße Haare, meine Mutter färbte ihre Haare. Ich kenne beide Seiten, aber die weißen Haare meiner Großmutter fühlten sich für mich richtig an.

„Dieser Glattgebügelt-Sein-Trend ist Quatsch!“

Dieser Natürlichkeit versuchen immer mehr Menschen Paroli zu bieten. 18-Jährige wünschen sich aufgespritzte Lippen zum Geburtstag. Was hältst Du vom wachsenden Schönheits-OP-Trend?

Jede(r) sollte das machen, was sie oder er möchte. Es würde mich aber freuen, wenn dieser Trend wieder weniger würde. Die Industrie und das Marketing wollen das Naturgesetz des äußerlichen Älterwerdens  ausschalten, aber wo ist das Problem? Aber klar: Die Werbung und die Social Media bohren in einer Wunde.

Wollte Dich jemals jemand – nicht nur digital – glattbügeln?

Nur meine Haare: Jemand hat mir einmal Extensions empfohlen, aber das fand ich fürchterlich. Ich habe so viele Haare, wie mein Alter zulässt. Ich hatte früher kurze Haare, aber ich bin sehr dünn und da gefallen mir lange Haare einfach besser. Ich liebe es, wenn der Wind durchbläst, sie einen umarmen. Ich möchte mit langen Haaren sterben. 

„Ich möchte mit langen Haaren sterben!“

Hast Du manchmal Selbstzweifel?

Nicht auf mich oder meinen Körper bezogen. Aber bei der Erziehung meiner Kinder kamen manchmal Zweifel auf. Mache ich alles richtig? Ich war nie streng, eigentlich zufrieden. Es war mehr das Umfeld, das mich zum Zweifeln brachte. Viele meinten, dass ich meine Kinder zu Laissez-faire erziehen würde. Mir selbst treu zu bleiben, war die richtige Entscheidung.

Warst Du als Kind auch schon modeverliebt?

Immer. Meine Großmutter trug tolle Hüte mit Schleier, Persianer-Hüte, richtig schöne Sachen. Sie war der Außenminister, mein Großvater der Innenminister. Sie war immer schick, kein typisches Mütterchen, wie es zu ihrer Zeit üblich war. Sie kaufte mir sehr teure Unterwäsche und pflegte zu sagen: „Untenrum muss es immer picobello sein“ (lacht).

Gerade trägst Du eine flauschige Jogging-Hose in Schwarz. Was würde Deine Großmutter dazu sagen?

Sie würde es bestimmt verstehen. Ich fror bereits als Kind immer (lacht). Sie würde sich freuen, dass mir nicht kalt ist, äußerlich nicht, und im Herzen noch weniger.

„Untenrum muss es picobello sein!“

Du hast vier Kinder, 15 Enkelinnen. Zwei Deiner Enkelinnen standen mit Dir schon vor der Kamera, …

… wobei das erste Shooting nicht gewollt war. Ich hatte einen Job, musste aber auf meinen achtmonatigen Enkel aufpassen und wollte das Shooting absagen. Sie überredeten mich, ihn mitzunehmen. Dort angekommen, wollte er meinem Arm nicht weichen. Sobald ich ihn losließ, schrie er fürchterlich. Was ein Fashion-Shooting werden sollte, endete als Oma- und Enkel-Porträt. Dieses schaffte es überraschenderweise bis nach New York auf eine riesengroße Plakatwand für einen Hurrikan-Spendenaufruf.

Würdest Du Deinen Enkelinnen zum Modeln raten? Die Teilnahme bei Germany’s Next Topmodel etwa?

Ich wurde schon zweimal für GNTM angefragt. Ich lehnte immer ab …

… das sagt mehr als tausend Worte!

Das Modeln wird immer schwieriger. Ich würde jedem raten, neben dem Modeln auch einen anderen Plan zu haben. Das ist eine sehr harte und unsichere Branche. Brands haben weniger Budget, das bedeutet weniger Jobs. Aber wenn man etwas wirklich will, lohnt sich jeder Kampf.

„Zweimal für GNTM angefragt, immer abgelehnt.“

Gibt es in Deinem Leben Tabus? Einschränkungen?

Ich rauche und trinke nicht. Früher war ich Kettenraucherin, ich wollte Kinder und hörte auf. Ich liebe den Geruch von Tabak auch heute noch, aber wurde nie rückfällig. 

Deine Gesundheit scheint es Dir zu danken: Du tanzt mit Deinen Enkelinnen durch den Garten, hüpfst mit ihnen auf Skateboards. Wie hältst Du Dich so fit?

In meiner Jugend tanzte ich selbst Ballett. Heute, wenn ich nicht gerade mit meinen Enkeln durch den Garten springe, fahre ich Fahrrad und gehe laufen.

Du warst über 30 Jahre lang verheiratet, seit 13 Jahren hast Du einen 25 Jahre jüngeren Freund. Was bedeutet Liebe für Dich?

Liebe ist alles! Ein Leben ohne Liebe ist für mich unvorstellbar. Ob jünger oder älter, ist ganz egal. Wir lernten uns am Flohmarkt kennen: Er sah meine weißen Haare aus der Masse leuchten, wartete, bis ich meine Runde beendete und sprach mich an. Ich suchte einen Toaster, er eine Gitarre. Gefunden haben wir, kitschig, aber wahr, die Liebe. 

„Ich suchte einen Toaster, er eine Gitarre.“

War der Altersunterschied nie ein Problem?

Doch, gerade die ersten sechs Wochen waren schlimm, da weinte ich viel. Ich musste immer daran denken, dass ich viel früher als er sterben werde. Ich dachte nur mehr ans Sterben, nicht mehr ans Leben. Mein Freund erinnerte mich wieder daran, dass es ums Hier und Jetzt geht. Heute lebe und liebe ich nach diesem Motto. 

Fühlst Du Dich alt?

Nein. Ich fühle mich einfach normal. Eine Falte mehr oder weniger, wo ist der Unterschied?

Alter ist …

… bedeutungslos. Ich befinde mich im letzten Viertel meines Lebens. Stimmt das? Keine Ahnung. Rechnen liegt mir nicht besonders (lacht). Ich habe meine Mutter begleitet, als sie starb. Was ich in diesen anderthalb Jahren erlebte, hat mir das gegeben, was ich für den Rest meines Lebens wissen muss. Meine Mutter blieb bis zuletzt in ihrem großen Haus allein wohnen, in dem sie im Grunde verloren war. Das möchte ich nicht. Ich brauche nicht mehr als ein Zimmer mit Strom, Internet und einem Fenster. Ich liebe meine Wohnung, aber ich hänge emotional nicht an materialistischen Dingen. 

„Ich suche die Unvollkommenheit.“

Hast Du Sorgen? Angst vor dem Tod?

Ich versuche, wie meine Mutter eigenständig zu bleiben. Eine Angst verspüre ich nicht. Ich lebe im Jetzt, darauf kommt es im Leben an.

Du wirst als Best-Ager-Model, Generation Gold oder Silver Ager bezeichnet. Der Marketing-Unsinn kennt keine Grenzen! Hast Du jemals mit dem Gedanken gespielt, mit dem Modeln aufzuhören?

Alle diese Floskeln kann ich nicht mehr hören. Ich mache weiter. Es macht mir wirklich Spaß. Ich bin 73 Jahre alt und man entwickelt sich stetig weiter, das hört auch im Alter nicht auf! Ich trenne mich aktuell, nach 13 Jahren, von meiner Modelagentur, da diese sich auf Beauty spezialisiert. Ich brauche den Bruch, ich suche die Unvollkommenheit. Und ich finde es wichtig, dass man in der Modeindustrie unterschiedliche Menschen zeigt, egal welchen Alters, Aussehens, welcher Konfektionsgröße. Passiert ohnehin, aber oft nur, weil es grad Trend ist.

Wenn Du Dein Leben in Farben einteilen müsstest, welche wären es?

Meine Kindheit bei meinen Großeltern war ganz hell, fast gelb. Dann kam die Studienzeit, die war wild und schön, das wäre wohl orange. Die Zeit mit meinen Kindern war mit Sicherheit rot!

Vor Liebe oder Wut?

Ganz viel Liebe. Das war eine sehr emotionale Zeit. Aktuell ist alles rosa. Ich liebe meine Familie, meinen Job, mein Leben. Ich genieße die Freiheit, die ich so nie hatte. 

Danke für das Gespräch!

Die Fotostrecke Jetzt stammt aus der 1. Ausgabe des 78/79 Magazin. Die „Fashion Journalism & Communication“-Klasse WiSe20/21 der AMD Berlin war unter der Leitung von Izabela Macoch für die Creative Direction, Produktion und das Styling zuständig. Die Fotos sind von Timo Wagner, Hair & Make-up von Amelia Odgers
Anna von Rüden ist 1951 in Nordrhein-Westfalen im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen. Sie studierte Sozialpädagogik, arbeitete als Leiterin in einer Kindertagesstätte in einem sozialen Brennpunkt in Berlin und modelte nebenbei. Sie ließ sich nach 30 Jahren Ehe scheiden, hat vier Kinder und 15 Enkelinnen. Seit 13 Jahren ist sie mit ihrem Freund in Berlin glücklich. Mit Mitte 50 wurde sie auf der Straße angesprochen und modelt seitdem unter anderem für Gucci, Dolce & Gabbana, die Berlin Fashion Week und mehr. Auf ihrem Instagram-Account @annavonrueden nimmt sie ihre knapp 15 Tausend Followerinnen mit in ihr Leben zwischen High-Fashion-Editorials und Kindergeburtstagen. 

Dieser Artikel entstand in freundlicher Kooperation mit dem Jungbleiben-Magazin von Vöslauer.