Der New Worker

Wie wollen wir wirklich, wirklich leben? Was macht uns Menschen glücklich? Was sollten wir für uns privat tun, wie viel für die Gemeinschaft? Wie werden wir in Zukunft arbeiten? Der österreichisch-amerikanische Philosophiestar Frithjof Bergmann, Vater und Verfechter der New-Work-Bewegung, berät Menschen, Unternehmen und die Regierungen Indiens und Südafrikas, wie sie eine neue Art des Arbeitens in die Praxis umsetzen können. Die ein oder andere Prügelei, in die er im Laufe seiner Mission geriet, konnte den mittlerweile 87-jährigen emeritierten Professor nicht von seinen Idealen abbringen. Im Interview spricht er über den „Automatisierungsorkan“, der in naher Zukunft über die Menschheit hinwegfegen wird, und darüber, was er sich wirklich, wirklich wünscht.

„Ich habe den Menschen geraten, sie sollten die Zeit der Arbeitslosigkeit konstruktiv nutzen, um sich zu überlegen, was sie in ihrem Leben wirklich, wirklich wollen.“ „Daraufhin hat man sie verprügelt?“ „Ja.“

Sie waren bereits Tellerwäscher, Preisboxer, Hafenarbeiter, Fabrikarbeiter, Bankangestellter, Drehbuchautor und Unternehmensberater. Haben Sie noch im Kopf, in wie vielen unterschiedlichen Jobs Sie schon tätig waren?

Sie wollen eine konkrete Zahl hören? Zwanzig Jobs werden es schon gewesen sein.

Welche davon waren denn beglückend?

Viele! Aber am liebsten erinnere ich mich an die Zeit als Preisboxer. Ich war zwar nicht so arg stark wie die meisten, dafür aber sehr schnell. Ich habe die Menschen verprügelt, bevor sie es gemerkt haben. Das hat mir große, große Befriedigung verschafft. Außerdem ist das ein Job, von dem ich in meinen späteren Jahren immer wieder profitieren konnte.

Sie meinen damals, als Sie den Entlassenen und Arbeitslosen in Flint gesagt haben, wie sie ihre freie Zeit am besten nutzen können?

Ja. Flint, Michigan, war die Wiege von General Motors. Das war so etwas wie das Volkswagen-Wolfsburg der Vereinigten Staaten. Flint war der Inbegriff einer funktionierenden, prosperierenden Industrie. Auch ich habe damals dort gearbeitet. Im Zuge der Automatisierung und Robotisierung Ende der Siebzigerjahre wurden jedoch in der Automobilbranche sehr viele Fabrikarbeiter entlassen. Die Stadt stürzte in eine Depression. Ich dachte mir: Wie können wir aus dieser Situation das Beste machen? Also habe ich den Menschen geraten, sie sollten die Zeit der Arbeitslosigkeit konstruktiv nutzen, um sich zu überlegen, was sie in ihrem Leben wirklich, wirklich wollen.

Daraufhin hat man Sie verprügelt?

Ja. Die Arbeiter hatten zu Beginn absolut keine Sympathie für mich. Immer wieder wurde es handgreiflich. Einige Arbeiter haben sich mit mir geprügelt. Ich habe echt kein Problem damit, in Körperkontakt zu treten. Mein Glück war halt, dass ich schneller war.

Aus dieser Zeit, nach den Massenentlassungen, ist viel darüber bekannt, was Sie den Menschen geraten haben ...

Ich habe ihnen immer wieder gesagt, sie sollen sich überlegen, was sie wirklich, wirklich wollen.

Aber man liest nur wenig darüber, wie die Menschen mit Ihren Ratschlägen umgegangen sind. Was ist daraus geworden?

Flint war berühmt für seine großen, großen Streiks. Am Anfang wurde die ganze Zeit protestiert. Doch dann kamen immer Menschen zu mir, um sich Rat zu holen. Manche haben Cafés eröffnet, andere sind Gärtner geworden, doch eines meiner Lieblingsbeispiele ist ein Mann, der jahrelang am Fließband gearbeitet hatte. Er war schwarz von all dem Öl. Er hat seine Arbeit gehasst. Als ich ihn fragte, was er denn lieber tun würde, stellte sich heraus, dass er sich nach einer „weißen“, einer sauberen Arbeit sehnte. Kurze Zeit später machte er eine Ausbildung zum Yogalehrer und hat sein eigenes Yogastudio aufgebaut, mit dem er einige Jahre recht erfolgreich war. Wir haben uns dann aber aus den Augen verloren.

Das klingt nach einer Bilderbuchgeschichte.

Eine Zeit lang hat Flint eine Art Wiedergeburt erlebt. Mit der Zeit ist die Welle dann aber abgeflacht. So ist das im Leben.

Jahre später hat der US-Regisseur Michael Moore einen Dokumentarfilm über den Untergang der General-Motors-Produktion in Flint gedreht. Hatten Sie je miteinander zu tun?

Oh ja! Ich kenne Michael recht gut. Wir waren eine Zeit lang sogar befreundet. Doch die Freundschaft war nicht von Dauer. Es hat bei mir etwas länger gedauert, bis ich begriffen habe, dass er eine Parodie über Flint macht, dass er sich über den Ort und seine Menschen lustig macht. Michael ist ein talentierter Mann! Er ist sehr erfolgreich mit seiner Komik. Aber das war so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich wollte! Ich wollte nicht den Status quo anprangern, sondern daraus eine positive Entwicklung ableiten. Es kam, wie es kommen musste: Eines Tages haben sich unsere Wege getrennt.

Haben Sie sich je mit ihm geprügelt?

Ja. Michael Moore wiegt viel mehr als ich. Aber ich hatte keine Angst vor ihm. Ich war schneller.

„Alles, was wir bisher erlebt haben, war nur ein Hauch dessen, was uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten bevorsteht.“

Damals haben Sie bereits entlassene und wegrationalisierte Arbeiter beraten. Heute, 40 Jahre später, haben viele Menschen Angst, durch Industrie 4.0 und die zunehmende Automatisierung und Robotisierung ebenfalls ersetzt zu werden. Wiederholt sich das Phänomen von damals?

Absolut, ja! Ich finde es zutiefst spannend, dass sich durch den technischen und technologischen Fortschritt die Themen wiederholen. Es geht um Effizienzsteigerung und Abbau von menschlichen Arbeitskräften. Die Menschen haben wahnsinnige Angst, dass sie eines Tages ohne Job dastehen. Für viele geht es ums Überleben. Bloß gibt es einen klitzekleinen Unterschied zu damals.

Der da wäre?

Das, was sich Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger abgespielt hat, war nur ein Vorspiel. Alles, was wir bisher erlebt haben, war nur ein Hauch dessen, was uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten bevorsteht. Es wird ein Sturm auf uns zukommen, stärker als alles Vorhergehende. Vielleicht wird es auch ein Orkan werden. Und ich muss gestehen: Trotz meines hohen Alters – ich persönlich werde den Orkan wahrscheinlich nicht mehr erleben – empfinde ich ein Gefühl der Aufwühlung und negativen Aufregung.

Was genau macht Sie denn so pessimistisch?

Wo soll ich anfangen? Wie viel Zeit haben Sie? Denken Sie nur daran, dass wir heute dabei sind, elektrische Autos zu produzieren, die sich nicht nur weitestgehend selbst bauen können, sondern die aufgrund ihrer Technologie kaum Wartung und Reparatur benötigen werden. Hinzu kommt, dass viele dieser E-Cars autonom fahren werden. Und jetzt rechnen Sie sich einmal aus, wie viele Millionen Jobs langfristig dadurch verloren gehen werden! Das ist nur ein Beispiel von vielen. Das Gleiche trifft auch auf die Baubranche zu. Und auf den Finanzdienstleistungssektor. Und nicht zuletzt auch auf die gesamte Medienbranche. Sorry dafür!

Was tun? New Work?

New Work. So ist es.

Der von Ihnen geprägte Begriff New Work definiert, dass man in Zukunft nur noch zu einem Drittel der normalen Erwerbsarbeit nachgehen solle. Ein weiteres Drittel entfällt auf die Eigenproduktion beziehungsweise Selbstversorgung. Das letzte Drittel schließlich auf die gewählte Arbeit, auf die Berufung …

… auf das, was man wirklich, wirklich will. Aber New Work ist ein dynamischer Begriff, und die Zeiten haben sich geändert, mit ihnen auch das, was ich heute unter New Work verstehe.

Und zwar?

Unter Eigenproduktion und Selbstversorgung meinten wir in den Siebziger- und Achtzigerjahren vor allem ein neues Bauerntum. Das ist heute längst schon Wirklichkeit, denn immer mehr Menschen sehnen sich danach, ihre Nahrung und ihre Kleidung selbst zu produzieren. Es ist zumindest ein bereits wahrnehmbares Phänomen geworden. Heute verstehen wir unter Eigenproduktion mehr und mehr einen umfassenden Do-it-yourself-Alltag. Dank 3D-Druck und anderen raffinierten Technologien werden wir schon bald in der Lage sein, einen Großteil unserer Güter selbst zu produzieren. Der Konsument wird zum Produzenten, zum sogenannten Fabrikator. Ich bezeichne das als „hightech Self-Providing“. Und diese Fabrikatoren spielen in der nahen Zukunft eine sehr große Rolle. Es geht darum, all das herzustellen, was man zu einem modernen, glücklichen Leben braucht. Der Selbstversorgeranteil jedenfalls hat sich stärker entwickelt, als ich es mir je hätte erträumen lassen. Ist das nicht schön?

„Warum verwenden Sie das Wort ,wirklich‘ eigentlich immer doppelt?“ „Ich will, dass die Menschen mein Anliegen wirklich, wirklich ernst nehmen.“

Von welchen Ländern sprechen wir da im Besonderen?

Indien, China und einige Länder in Afrika werden da schon bald die Nase vorn haben.

In welchen Bereichen werden die Ansätze von New Work heute bereits gelebt?

Überall. Wissend, dass es auf der Welt immer noch sehr, sehr viele Jobs gibt, die unglücklich und unwürdig sind. Dennoch stelle ich fest, dass sehr viele Arbeitgeber in der Zwischenzeit sensibilisiert sind. Sie haben erkannt, dass Arbeit glücklich machen kann und dass glückliche Arbeitnehmer, die sich mit ihrem Beruf identifizieren können, deutlich effizienter, zuverlässiger und auch eigenverantwortlicher sind. In vielen Jobs und Branchen ist mein Appell, das zu tun, was wir wirklich, wirklich wollen, bereits Realität geworden. Das wirkliche, wirkliche Wollen ist Teil der Unternehmenskultur geworden. In den Achtzigerjahren jedoch war die Vorstellung einer Arbeit, die man wirklich, wirklich will, für die meisten Menschen abstrakt und verblüffend schwierig vorstellbar. Ich bin so glücklich, dass sich das geändert hat.

Warum verwenden Sie das Wort „wirklich“ eigentlich immer doppelt?

Weil mir wirklich, wirklich viel daran liegt, und ich will, dass die Menschen mein Anliegen wirklich, wirklich ernst nehmen.

„Mein Job ist traumhaft.“

Macht Sie Ihre Arbeit glücklich?

Sie meinen das, womit ich mich derzeit beschäftige? Oh ja. Der Job ist einfach traumhaft. Vor allem in den letzten Monaten habe ich – damit verbunden – viele Glücksmomente erleben dürfen. Das ist genau das, was ich wirklich, wirklich will.

Sie sind jetzt 87. Woher nehmen Sie Ihre Energie?

Schon unglaublich, oder? Erstens bin ich selten müde. Zweitens sitze ich im Rollstuhl, und das ist ziemlich bequem, weil mich meine Freunde überall hinfahren. Und drittens halte ich viel mehr aus, als die Menschen mir zutrauen.

Sie sind als Berater tätig. Wer zählt heute zu Ihren Kunden?

Menschen, Unternehmen, Institutionen und diverse Regierungen – so wie beispielsweise Indien und Südafrika. Die Beratungstätigkeit umfasst im Wesentlichen das Ernstnehmen der Zukunft. Es geht um ein seriöses Ernstnehmen, ohne aber den Menschen Angst zu machen. Wenn der Frithjof gefragt wird, dann sagt er: Alles, nur keine Angst!

Woran arbeiten Sie zurzeit?

An zwei Dingen. Erstens engagiere ich mich dafür, dass die Lohnarbeit zurückgeht, denn Lohnarbeit ist eine langweilige, ermüdende und erschöpfende Tätigkeit, die den Menschen auf lange Sicht zermürbt. Ich erkenne einen gewissen Erfolg, denn die klassische Lohnarbeit wird systematisch rückgebaut. Und zweitens setze ich mich dafür ein, dass die Idee des New Work weltweit mehr und mehr Unterstützer findet. Ich bin dabei, sogenannte „Zentren für Neue Arbeit“ zu errichten. Das erste Zentrum dieser Art haben wir in Mumbai eröffnet. Ich muss gestehen, ich hatte Angst …

„Alles, nur keine Angst!“

Wovor?

Vor Gandhi. Ich hatte befürchtet, dass uns die Lehre Gandhis – sein Konzept eines autarken, bäuerlich geprägten Wirtschaftssystems – einen Strich durch die Rechnung machen würde. Das Gegenteil ist passiert. Gandhi hat uns sehr geholfen.

Was passiert in diesen Zentren?

Genau das! New Work macht nur dort Sinn, wo Menschen zusammenkommen und sich über ihre Ängste, Wünsche und Sehnsüchte austauschen. Ohne gegenseitige Unterstützung gibt es auch keine Evolution.

Wo werden die kommenden Zentren eröffnen?

Ebenfalls in Indien sowie in Südafrika. Das ist ein Land, in dem ich ganz besonders intensiv versucht habe, neue Arbeit zu implementieren. Die Arbeit beginnt, Früchte zu tragen.

„Wann, wenn nicht jetzt?“

Sie haben das Miteinander angesprochen. New Work ist nicht zuletzt eine Forderung nach einer kooperierenden, sich vernetzenden Gesellschaft. Im Moment aber erlebt die Welt einen Rückschritt in alte Zeiten und längst überwunden geglaubte Nationalismen. Ist der Rechtsruck eine Gefahr für New Work?

Das, was ich derzeit auf der Welt beobachte, ist eine sehr große Gefahr – und zwar für alle innovativen Denk- und Lebensansätze. Mir bereitet der globale Rechtsruck enormes Unbehagen. Daher ist es heute wichtiger denn je, sich für „Neues Arbeiten“ einzusetzen. Wann, wenn nicht jetzt?

Haben Sie einen Wunsch an Gesellschaft, Wirtschaft, Politik?

Liegt das denn nicht auf der Hand? Ich wünsche mir, dass wir die Möglichkeit nutzen, heute eine völlig neue Kultur zu zeichnen, die unvergleichlich fröhlicher und intelligenter, nachhaltiger ist als all das, was wir bislang hatten. Von der Wirtschaft und Politik wünsche ich mir die entsprechende Menge an Mut und Energie, damit wir auch in der Lage sind, das damit verbundene Risiko auf uns zu nehmen.

Das stellt die Werte der Weltwirtschaft komplett infrage. Wann wird das der Fall sein?

Heute, morgen, übermorgen. Es kommt in galoppierendem Tempo!

Haben Sie schon eine Idee, welche Frage ich mir für den Schluss aufgehoben habe?

Ich habe nicht die geringste Ahnung.

„Ist das jetzt egoistisch genug?“

Was ist es, das Sie wirklich, wirklich wollen?

Oh, das ist verhältnismäßig leicht! Ich will das „Neue Arbeiten“ global verbreiten. Und ich träume von einer Kultur, in der von Kindheit an alles Erdenkliche getan wird, um Menschen zu stärken und zu kräftigen.

Als Sie vor 40 Jahren die Fabrikarbeiter in Flint gefragt haben, was sie wirklich, wirklich wollen, haben Sie sie nach ihren tiefsten, innersten, egozentrischen Sehnsüchten gefragt. Das mache ich jetzt auch. Also noch einmal: Was ist es, das Sie, Fritjof Bergmann, wirklich, wirklich wollen?

Also gut. Ich will wieder in Österreich leben. Ich liebe dieses Land. Und ich wäre dankbar, wenn man mir die Möglichkeit böte, in Österreich arbeiten zu dürfen. Ist das jetzt egoistisch genug?

Frithjof Bergmann (87) studierte Philosophie in Princeton und hatte Lehraufträge an den Universitäten in Stanford, Chicago und Berkeley. 40 Jahre lang war er Professor an der University of Michigan in Ann Arbor. Er ist Begründer der New-Work-Bewegung. Das Konzept New Work bezeichnet eine neue Arbeitsweise der heutigen Gesellschaft im globalen und digitalen Zeitalter. Die in den 1980er-Jahren verfassten Thesen vom Begründer der Bewegung der „Neuen Arbeit“ gehen von der Annahme aus, dass das bisherige Arbeitssystem veraltet sei. Die Menschheit befinde sich im Wandel von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft. Dieser tiefgreifende Wertewandel zwinge die Arbeitswelt dazu, klassische Strukturen der „old Work“ – Lohnarbeit, starre Hierarchien und strenge Arbeitsteilung – aufzulösen und mit flexibleren Vorstellungen von Arbeit zu ersetzen. Nach New Work soll die Erwerbstätigkeit auf ein Drittel reduziert werden, ein weiteres Drittel entfällt auf die Selbstversorgung und Eigenproduktion und das letzte Drittel auf die Berufung. Industrie 4.0, autonome Fahrzeuge und Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz stellen immer mehr Menschen der „alten Arbeitswelt“ vor die Frage, was sie in Zukunft machen wollen.