Der Feldforscher

irgendwie viel mit medien

Es gibt nicht viele, die mit 32 Jahren schon so viele Geschichten gehört haben wie Clemens Marschall. Er hat ihnen allen zugehört: der Prostituierten vom Prater, dem Mörder und dem ausgebildeten Exorzisten. Er ist Autor, Magazinherausgeber, Musiker – und jetzt auch Fernsehmacher. Den Doktortitel hat er sich so nebenbei geholt. Wie sich das alles ausgeht, was ihn antreibt, und was vor allem das neue ORF-Sendungsformat Rokko’s Adventures zu bieten hat – alles das hat er uns erzählt. Die Fotos sind von Kurt Prinz, der schon seit der ersten Ausgabe mit Clemens Marschall zusammenarbeitet, die Filmstills von Klaus Pichler.

„Ich mag den Exorzisten, die Praterhur’, die Tätowierer. Mit denen treff ich mich auch so, ohne Kamera.“

Du machst es spannend. Der Trailer ist draußen, aber keiner weiß, worum es wirklich gehen wird.

Sachen, die aus dem Nichts kommen, fahren besser, oder?

Du bist neu beim Fernsehen und bekommst gleich einen ziemlich prominenten Sendeplatz – direkt nach „Willkommen Österreich“. Wie ist das passiert?

Vor zwei Jahren hat mich Superfilm, die Produktionsfirma von David Schalko, kontakiert, um alles zu bestellen, was ich bislang gemacht habe. Ich habe ihnen ein Packerl zusammengestellt und, weil Wien eh so klein ist, persönlich vorbeigebracht. Eine Woche später ist noch einmal dieselbe Bestellung gekommen. Kurz darauf kam eine Nachricht von David Schalko, er würde sich gerne auf einen Kaffee treffen.

Den kanntest Du vorher nicht?

Ihn persönlich nicht, nur das, was er gemacht hat. Wir haben uns also getroffen, und es war ein sehr angenehmes Gespräch. Am Ende kam die Frage, ob ich das Printmagazin „Rokko’s Adventures“ in ein TV-Format adaptieren kann. Ohne Vorgaben. Er hat mir da einen Floh ins Ohr gesetzt, und ich hatte innerhalb kürzester Zeit ein Konzept und gleich vier Folgen abgetippt. Das Endprodukt ist wirklich nicht weit entfernt vom ersten Entwurf: Es sind vier Tage und Nächte mit der Figur Rokko.

Und worum geht es denn eigentlich bei „Rokko’s Adventures“?

Die Ausgangssituation: Der Typ ist Anfang 40, hack’lt fürs Gartenamt und kommt drauf, dass er mit seinem Leben eigentlich unzufrieden ist. Der Job ist für ihn plötzlich nur noch Schikane. Er beschließt, auf die Arbeit zu scheißen und seinen bisherigen Lebensplan in den Wind zu schießen. Dann geht er schnurstracks zur nächsten Imbisshütte. Dort kommt er mit Leuten ins Reden. Von da an fällt er vier Tage und vier Nächte durch Falltüren, trifft diesen und jenen seltsamen Vogel und kommt nie dort an, wo er eigentlich hinwollte. Also eh relativ lebensnah.

Der Großteil Deiner Freundinnen nennt Dich Rokko. Seit wann lebst Du schon mit dieser Persona?

Seit 2006.

Seit wann gibt es das Magazin „Rokko’s Adventures“?

Seit 2007. Ich hab vorher schon Musik gemacht – unter dem Namen Rokko Anal.

„Ich hab vorher schon Musik gemacht – unter dem Namen Rokko Anal.“

Bestehst Du auf die Differenz zwischen Rokko und Dir selbst?

Unterschiedlich. Wenn es nur ums Magazin geht, will ich auch Rokko genannt werden, aber bei der Fernsehsendung war es ein Kunstgriff, diese Figur zu entwerfen.

Warum hast Du Dich dafür entschieden, das fiktional zu machen, obwohl sich das Format des Dokumentarischen auch angeboten hätte?

Für mich war es interessanter, eine nicht fassbare Person zu erfinden als jemanden, der als Reporter herumläuft. Ich wollte absurde, surreale Momente einführen und komische Szenen drinnen haben, die eigentlich unmöglich sind, aber das Format erst ausmachen. Für mich ist das Überraschungsmoment immer sehr wichtig, dass man nicht weiß, wie die nächste Szene aussieht oder die Geschichte ausgeht. Ich wollte keine „Das ist auch Wien“-Dokumentation machen.

„Ich wollte keine ,Das ist auch Wien‘-Dokumentation machen.“

Zentral ist dabei die Position, die Du einnimmst. Du lässt dich auf die Menschen ein und kennst die Charaktere, die in den Fernsehspielen vorkommen, schon länger. Auch der Leserschaft Deines Magazins sind sie bekannt. Wie hast Du sie kennengelernt?

Ich kenne die meisten schon seit Jahren! Manche bin ich gezielt angegangen, andere Kontakte haben sich über Freunde von Freunden ergeben, andere sind mir „nahegelegt“ worden. Bei den meisten Geschichten mach ich mich selbst nicht wichtig. Ich schau, dass ich mir den Zugang zu möglichst vielen Dingen offenhalte. Wenn ich wo reinkomme und gleich auf großen Macker mache, würden Leute wie die Hells Angels mich auslachen und fragen, was mit mir überhaupt los ist. Ich komm immer relativ naiv und unschuldig daher und versuche, die Leute sprechen zu lassen. Hinterher kommen dann eh meine Filter drüber, wenn ich eine Geschichte daraus mache. Aber am Anfang will ich einfach nur wissen, was die Leute zu sagen haben.

Wann hast Du gelernt zuzuhören?

Ich habe schon früh begonnen, Kurzgeschichten zu schreiben, war Teil der Literaturgruppe Wortwerft, bis ich draufgekommen bin, dass es für mich keinen Sinn macht, Charaktere zu entwerfen, wenn ich auch einfach auf die Straße gehen und diese entdecken und portraitieren kann. Da habe ich aufgehört fiktional zu schreiben und bin auf die Suche nach diesen Typen gegangen, die man nicht erfinden kann.

„Es gibt oft angelehnte Türen, da reicht ein Fingerstups, und drinnen tun sich Universen auf.“

Ein wichtiger Faktor ist das Herumstreunen. Du ziehst durch die Gegend und schaust, was passiert. Unmittelbarkeit und die Zufälligkeit der Begegnungen sind zentral.

Das ist einer der wichtigsten Aspekte. Dahinter stecken auch Unmengen theoretischer Ballast, angefangen bei dem Dérive der Situationistischen Internationale bis hin zu Francis Alÿs – den ich 2011 kennengelernt habe und der mich als Künstler stark beeinflusst hat. Er hat das Herumstreunen zu seinem Medium ernannt. Er gibt dem Moment das Potenzial, sich zu entfalten. Für ihn ist Gehen meditativ und gefährlich zugleich.

Und wie ist das für Dich?

So habe ich das auch gerne – dass in jedem Moment alles passieren kann. Viele gehen nur mit einem konkreten Ziel. Ich finde es viel lustiger, wenn man andere Wege nimmt. Es gibt oft angelehnte Türen, die man nicht mit Gewalt auftreten muss, da reicht ein Fingerstups, und drinnen tun sich Universen auf, die man sich überhaupt nicht hätte vorstellen können. Auf solche Situationen muss man sich halt einlassen. Ich sag bei solchen Angeboten viel eher ja als nein.

Das Umherschweifen und Entdecken ist ja genauso wichtig wie die Gespräche, die Du dann führst. Nehmen wir das Buch „Golden Days Before They End“ (Edition Patrick Frey, Zürich 2016) mit Klaus Pichler. Da dokumentiert Ihr Wiener Beisln und die Leute, die dorthin gehen. Die Leute öffnen sich, lassen zu, dass Fotos gemacht werden, reden mit Euch. Wie bringt man sie dazu?

Das erfordert schon Vertrauen. Du kannst nicht einfach reinplatzen und Schnappschüsse machen. Das erfordert viel Zeit. Beim Beisl-Buch gibt’s ein paar Hütten, in die ich sowieso ohne Hintergedanken regelmäßig gehe, sofern es sie noch gibt. Ich bin eh oft den ganzen Tag alleine vorm Computer, dann genieße ich es, wenn man am Abend die Theorie in die Praxis umsetzt, nicht nur Likes hergibt, sondern auch mal eine Umarmung.

„Die Dunkelziffer der Geschichten, die ich nicht veröffentlichen darf, ist viel höher als die derer, die tatsächlich niedergeschrieben werden.“

Deine Gesprächspartnerinnen sind meistens irgendwie Outcasts, die Unterprivilegierten der Gesellschaft, Sonderlinge und Grenzgängerinnen, vom Leben Gezeichnete. Wie wählst Du Deine Gesprächspartnerinnen?

Eine Faustregel gibt’s da nicht. Auch jemand wie Thomas Brezina interessiert mich. Das Interview mit ihm hat sich dann aber als eines der langweiligsten herausgestellt, die ich je gemacht hab. Die Trafikantin von nebenan hat viel mehr zu erzählen.

Man hat auch das Gefühl, dass die Leute einfach erzählen können. Dass es da so eine Bereitschaft gibt, die beste Geschichte auszupacken. Wie lange gehen Deine Interviews, bis Du etwas Gehaltvolles rausbekommst?

Das, was man mitkriegt bzw. was ich veröffentliche, sind nur die Chancen, die aufgegangen sind. Es gibt genug Leute, die die interessantesten Geschichten zu erzählen haben, aber die diese einfach nicht aufgezeichnet haben wollen. Muss man auch respektieren. Die Dunkelziffer der Geschichten, die ich nicht veröffentlichen darf, ist viel höher als die derer, die tatsächlich niedergeschrieben werden.

„Ein Interview mit Thomas Brezina hat sich als eines der langweiligsten herausgestellt, die ich je gemacht habe. Die Trafikantin von nebenan hat viel mehr zu erzählen.“

Hast Du Dir schon überlegt, einen Roman zu schreiben? Wenn Du schon so viele unveröffentlichte Geschichten im Kopf hast ...

Die Idee hatte ich vor ein paar Monaten tatsächlich, nachdem ich „Die Wunschpumpe“ von Marc Adrian gelesen habe. Das ist ein Montageroman, den mir der Saxofonist Michael Fischer ans Herz gelegt hat. Marc Adrian muss in den 1960ern so viel Zeit am Praterstern verbracht haben ... Der hat die poetischsten Sätze über die schlimmsten Vorfälle niedergeschrieben und mit abstrakten Ideen gegengeschnitten. Es gibt definitiv eine Wulst an Eindrücken und Informationen, die ich gerne aufknüllen würde, aber ich bezweifle, dass ich das so brutal roh und gleichzeitig akribisch und schlau schaffen könnte wie Marc Adrian.

Für das Magazin arbeitest Du mit Freunden zusammen. Wie ist das jetzt mit dem Fernsehteam?

Das Kernteam besteht nur aus drei Menschen, die ich mir selbst aussuchen konnte: also ich (Drehbuch und Regie, oft auch mal Trottel vom Dienst), Klaus Pichler (Kameramann) und Stefan Rosensprung (macht den Ton). Meistens sind wir zu dritt durch Wien gezogen und haben das ganze Zeug herumgeschleppt, das war sehr lo-fi. Es hätte uns sicher nie wer geglaubt, dass wir eine ORF-Produktion machen.

„Es gibt definitiv eine Wulst an Eindrücken und Informationen, die ich gerne aufknüllen würde.“

Wie viele Drehtage gab es?

Es musste alles ziemlich schnell gehen und effektiv sein, pro Folge gab’s offiziell drei. Ein paar mehr haben wir aber schon gebraucht.

Das war aber, schätze ich mal, auch wichtig?

Es war schon wichtig, dass wir nicht mit dem ORF-Bus ankommen, die Lichter aufbauen und da ein Mords-Bahö machen. Das Intime ist essenziell, wenn man Leute in ihrem Wohnzimmer besucht, dass sie sich wohlfühlen und so reden wie sonst auch.

„Es hätte uns sicher nie wer geglaubt, dass wir eine ORF-Produktion machen.“

Und hast Du das Gefühl, dass die Leute, die daran teilhaben, auf das Ergebnis stolz sind?

Ich nehme an, es haben sich alle wohlgefühlt vor der Kamera. Und ich hab wie immer den Leuten, bei denen ich Bedenken hatte oder die es sich wünschten, das Ergebnis vorher gezeigt. Früher oder später sehen sie’s sowieso – und weil ich sie nicht verärgern will, tu ich mein Bestes. Es ist nicht meine Aufgabe, da wen bloßzustellen, und ich will die Leute auch nach der Ausstrahlung wieder treffen.

Wie reagieren die Leute, wenn Du ihnen ihr Interview zeigst?

In der Eröffnungssequenz der ersten Folge reden ein alter Praterstrizzi und ein Freudenmädchen ohne Filter einfach so dahin. Als wir denen das Video gezeigt haben, wollten sie es gleich nochmal sehen. Sie haben gemeint: „Na endlich wird des so zagt, wie’s wirklich is’.“ Ich finde es schon super, wenn es sich in beide Richtungen ausgeht. Ich muss ja nicht immer einer Meinung und mit allem d’accord sein, damit die sich verstanden und nicht übergangen fühlen. Aber mein Ziel ist es, dass die sich das auch ansehen können und dabei nicht deppat fühlen.

„Ich sag, ja, ich hab studiert, aber ich würd gern da ein Bier sauf’n.“

Es wird ja spekuliert, dass Elizabeth Spira dem Fernsehen nun endgültig den Rücken kehrt. War Spira als Vorbild jemals relevant?

Ich  habe zwei Ansichten zu Spira: Einerseits finde ich cool, was sie macht, schau mir das gerne an und finde es total wichtig, was sie dokumentiert hat. Auf der anderen Seite kommt ihr Impetus von ganz woanders als meiner. Ich hab ja meine Pappenheimer gern. Ich mag den Exorzisten, die Praterhur’, die Tätowierer. Mit denen treff ich mich auch so, ohne Kamera. Bei Spira gab es eine andere Hintergrundgeschichte, den Antisemitismus, den sie mit ihrer Familie ganz direkt zu spüren bekam: Sie hatte etwas aufzuarbeiten und ist mit einer Boshaftigkeit in die Milieus reingestürzt. Dabei hat sie die Leute vorgeführt, was ich auch verstehe. Ich will ihr keinen Vorwurf machen, aber sie hat extrem viel verbrannte Erde hinterlassen, das hab ich gemerkt mit dem Beisl-Buch. Wenn ich da in manche Hütten hineingegangen bin, kam „Aha, seid ’s ihr so auf Spira? Die Spira hockt drei Stund’ da und alles is dulli, und die zehn Sekunden, wo’s oasch is, werden dann im Fernsehen ’bracht.“ Ich hab nach wie vor totalen Respekt vor ihr und schau mir das gerne an, aber ich verstehe auch die Leute, die böse auf sie sind.

Wie viel Empathie gehört zu dem, was Du machst? Kommt die mit der Zeit oder ist sie Vorbedingung?

Ich glaube schon, dass sie von Anfang an da sein muss. Dass man sich ehrlich interessiert, aber auch ehrlich zu sich selbst ist. In Fredis Feuerhalle hab ich letztens einen leiwanden Typen getroffen, der war 52, kommt rein, abgearbeitet, verschwitzt, aber total freundlich und mit einen guten Schmäh. Er sagt, er hat die ganze Woche durchgehack’lt, am Wochenende jetzt dann zwei Tage Pfusch auf der Baustelle, dann läutet sein Telefon, es ist die Pflegerin vom Sohn. Der Sohn ist schwerstbehindert, auf den muss er auch noch aufpassen, den hat er mit mühsam angespartem Geld zu Spezialbehandlungen in die USA geflogen, und dann macht ihm die Ex-Frau auch noch Schwierigkeiten. Du sitzt daneben und denkst dir: „Fuck, hab ich ein seliges Leben.“ Du setzt dich dem bewusst aus, aber der setzt sich dem nicht aus, das ist seine Existenz. So etwas holt einen auch immer wieder runter vom abgeklärt-intellektuellen Ross.

„Das Herumstreunen gibt dem Moment das Potenzial, sich zu entfalten.“

Hast Du Angst davor, dass Dir Sozialpornografie vorgeworfen wird?

Na, das soll bitte wer machen ...

Damit Du Dich dann wie rechtfertigen kannst?

Das Problem ist, dass so eine gutbürgerliche Schicht die Verantwortung über fremde Milieus übernimmt und denen sagt, was „good, bad and ugly“ ist, obwohl die überhaupt keine Vorstellung davon haben, was da eigentlich passiert. Die würden ja nie in so ein Lokal oder in so eine Szene reingehen, das sind weltfremde Volltrottel. Und ich bin ja auch kein Milieu-Zugehöriger, aber ich wage nicht zu urteilen, wie jemand zu leben hat. Ich schau mir das an und find das teilweise schon arg und speziell, aber meine Lebensweise ist deswegen nicht besser. Dieses Drüberstülpen, dieser bürgerliche Filter, das find ich eigentlich nur heuchlerisch.

„Du sitzt daneben und denkst dir: ,Fuck, hab ich ein seliges Leben.‘ Du setzt dich dem bewusst aus, aber der setzt sich dem nicht aus, das ist seine Existenz.“

Hattest Du nie Angst vor Auseinandersetzung? Ich kann mir vorstellen, dass die Kombination aus Frust und Alkohol, die Stimmung plötzlich kippen lassen könnte. Wie reagiert man auf so etwas?

Das Wichtigste ist, dass man nie glaubt, man ist der Coole, und so tut, als würde man sowieso dazugehören. Ich trete nicht in Verkleidung auf, sondern komme dort mit meiner Hornbrille und meinem Outfit an. Die wissen sofort, wer ich bin, und das streit ich dann nicht ab. Ich sag, ja, ich hab studiert, aber ich würd gern da ein Bier saufen. Wenn man mit offenen Karten spielt, dann haut das normalerweise auch hin, und wenn’s nicht hinhaut, dann schleicht man sich halt wieder und hat nicht viel verloren.

Zum Beispiel?

Ich hab vor zehn Jahren einen Sommer bei den Straßenkehrern gearbeitet. Da war ich frische 20, Student und Milchgesicht. Da hab ich mir anfangs schon gedacht, da hocken die alten, wilden Hund’ beieinander und schicken den Studierten sicher in die g’schissenste Hack’n. Aber es war das genaue Gegenteil. Die haben mich in ihre Lokale mitgenommen und waren interessiert, weil ich keine arrogante Welle angeschlagen hab. Mich hat das interessiert, was sie machen, genauso war’s auf der anderen Seite. Ich finde, dass man mit einem fairen Entgegenkommen viel bewirken kann. Aber wenn irgendein Straßenkehrer bei einer Akademikerfeier reinplatzt, würde der wahrscheinlich sofort am Genick gepackt und des Platzes verwiesen werden, weil der passt denen halt nicht. Nach unten ist die Hierarchie viel offener als nach oben. Umso mehr hab ich anerkannt, dass die mich nicht als Sündenbock gesehen haben für alles, was vielleicht falsch gelaufen ist in ihrem Leben.

Äußern sich Leute manchmal politisch, und geht das oft an deine Grenzen, wo Du gerne Konter geben würdest und Dich bewusst zurückhältst?

Ich finde, da gibt es zwei Szenarien. Wenn ich frisch irgendwo reinhupf und merke, dass da ein grauslicher Rechtsdrall herrscht, dann schleich ich mich. Weil was will ich da holen? Das geht sich nicht aus. Wenn es etwas ist, wo ich schon sozusagen Teil davon bin, und dann kommt wer rein und versucht, die Richtung umzudrehen von neutral oder links – es gibt ja viel linke Leut’ in den Buden – nach rechts und versucht, sich aufzuführen, dann nehm ich mir schon das Recht heraus, aufzustehen und ihm meine Meinung zu sagen. Aber da muss man schon wissen, wo das eigene Revier beginnt und wo es aufhört. 

Es ist ja bei Interviews generell die Frage, wo man als Interviewerin die Grenzen steckt. Da geht’s ja auch um Fingerspitzengefühl. Öffnen sich die Leute wirklich von selbst oder kitzelst Du die Geschichten heraus? Mir kommt vor, Du befindest dich schon so auf einem Level mit deinen Interviewpartnerinnen, fast schon freundschaftlich, als könntest Du mit ihnen offen über alles reden.

Stimmt, gut beobachtet. Ich hab mal einen Kaviarsex-Liebhaber interviewt, was ehrlich gesagt schon ziemlich harter Tobak war. Aber irgendwie stellt sich so ein Autopilot-Level ein, ein neutrales Interesse, sodass ich im Gespräch gar nicht mitkrieg, ob das arg ist oder nicht. Ich bin einfach neugierig. Erst beim Transkribieren merke ich dann, was ich da eigentlich so aufgeschnappt hab.

Was ich als große Stärke von deinen Projekten sehe, ist, dass alle gleichwertig sind und gleich ernst genommen werden. Es ist ein Kaleidoskop an Charakteren und Lebensentwürfen.

Das find ich voll wichtig. Jeder kriegt dieselben Karten. 

„Im Gespräch krieg ich gar nicht mit, ob das arg ist oder nicht. Ich bin einfach neugierig. Erst beim Transkribieren merke ich dann, was ich da eigentlich so aufgeschnappt hab.“

Hast Du nie gehadert oder gezögert, ob das Fernsehen eigentlich das richtige Format ist für Deine Geschichten ist?

Ich bin ein wechselwarmes Tier. Ich kann mich in jedem Format ausleben. Schreiben, Radio, Fernsehen – wurscht. Es schaut dann einfach immer ein bissl anders aus. Meine Homebase ist bestimmt das Schreiben. Da hab ich mein eigenes Tempo, muss null Kompromisse eingehen. Aber für mich ist das Wichtigste, dass das Rad in Bewegung bleibt und Strom erzeugt. Wo der Strom dann hingeht, ist so eine Variable. Die Hauptsache ist, dass was passiert.

„Ich bin ein wechselwarmes Tier.“

Was heckst Du als nächstes aus?

Es gibt ein paar Dinge, die aber noch nicht spruchreif sind. Ein nächstes „Rokko’s Adventures“-Heft muss ich endlich mal machen, und mit dem Fotografen Kurt Prinz arbeite ich jetzt schon seit ein paar Jahren an einem Projekt, das langsam dem Endstadium zugeht: Es behandelt die Indianerkultur in Österreich, Deutschland und Tschechien und ihre Auswüchse in kitschige Westernstädte, private Wohnzimmer, aber auch Indianerlager und Pow-Wows, die authentischer sind als jene, die die „echten“ Native Americans in ihrer Heimat noch leben. Uns hat sich im Laufe der jahrelangen Arbeit, also seit 2012, ein völlig eigenartiges Pflaster mit vielen Brüchen und Twists offenbart, inklusive „Cultural Appropriation“ und seltsamen Nachwirkungen. Es kommen tatsächlich Natives aus Amerika nach Europa, um an diesen Nachstellungen teilzunehmen, weil bei uns der edle Mythos, den Karl May angepflanzt hat, um sie herrscht, während sie in ihrer Heimat und in ihren Reservaten noch immer oft wie der letzte Dreck behandelt werden. Das werden wir jetzt hoffentlich bald in Form eines Foto-Text-Buchs zum Abschluss bringen.

www.rokkosadventures.at

Der Trailer zur Fernsehsendung Rokko’s Adventure


Fotografen: Kurt Prinz & Klaus Pichler

www.kurtprinz.at

www.klauspichler.net


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