Der Bioniker

Nach dem Zyklus der Natur

Wir haben anlässlich der Ausstellung Bioinspiration – Die Natur als Vorbild im Technischen Museum Wien (bis 3.9.) mit dem britischen Stararchitekten Michael Pawlyn gesprochen. Der Pionier des biomimetischen Designs erklärt uns, wie wir das Bauen und die Architektur radikal verändern können, indem wir nicht nur von der Natur lernen, sondern unsere Sinne schärfen und in ihrem Rhythmus leben.

„Eine phänomenale Welt der Schönheit“

Eva Holzinger: Wie viel Zeit verbringen Sie in der Natur?

Michael Pawlyn: Ich habe das Glück, in der Nähe einer der größten Grünflächen in London zu wohnen. Ich gehe dort jeden Tag mindestens eine Stunde mit meinem Hund spazieren. Außerdem wandere ich derzeit gemeinsam mit meiner Partnerin Kelly Hill die gesamte Länge der Themse in Etappen ab. Auch im Urlaub suche ich nach inspirierenden Ökosystemen, die ihrem ursprünglichen Zustand nahe sind. Wistman's Wood im Südwesten Englands ist so ein Beispiel.  

Die erste Lektion, die Sie die Natur gelehrt hat?

Den Sinn für absolute Schönheit. Als ich als Teenager das erste Mal in einem Korallenriff schnorcheln war, durfte ich in eine fast außerirdische Atmosphäre tauchen, in eine nicht gekannte Geräuschkulisse. Alles hat sich viel langsamer bewegt, die Intensität der Farben war mir neu. Eine phänomenale Welt der Schönheit, auf die wir viel mehr achten sollten. 

Was macht ein Design schön?

Es gibt eine starke Verbindung zwischen Schönheit und Bedeutung. Wenn ich einen Baum ansehe, bekomme ich ein Gefühl dafür, wie er das Licht sammelt, wie er Kohlendioxid und Sauerstoff austauscht und wie er Windkräften standhält. Dieser Sinn für Klarheit ist für mich schön. In meinem Unternehmen „Exploration Architecture“ erforschen wir biologische Strukturen und Wachstumsmuster. Dabei geht es nicht nur um Ressourceneffizienz, sondern auch darum, diesen Sinn für Schönheit und seine Bedeutung zu erfassen. Wir wollen erkennen, warum etwas so ist, wie es ist  auch bei Gebäuden. 

„Biologische Strukturen besitzen Sinn für Klarheit.“

Wie sieht es bei Ihnen zu Hause aus?

Ich wohne in einem alten historischen Gebäude. Meine Wohnung wird gerade renoviert, und ich bin dabei, viele meiner Arbeitsprinzipien nun mit einzubauen: ausreichend natürliches Licht, Pflanzen, eine gute Verbindung zwischen Innen und Außen, die Verwendung natürlicher und die Wiederverwendung vorhandener Materialien, wie zum Beispiel altes Holz.

Was meinen Sie mit einer guten Verbindung zwischen Innen und Außen?

Ich meine damit nicht nur eine schöne Aussicht. Es ist auch wichtig, andere Sinne anzusprechen: den Hörsinn, die Fähigkeit, Temperatur und Luftfeuchtigkeit wahrzunehmen, in den richtigen Momenten zu lüften und dem Zyklus der Natur zu folgen, um uns auch zu Hause mit dem Rhythmus der Natur zu verbinden.

Ein gutes Design spricht also alle Sinne an?

Ja, und zwar alle neun Sinne. Der britische Autor Ken Robinson hat den beliebtesten TED-Talk aller Zeiten gehalten und darin erklärt, dass es neben Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten auch Gleichgewicht, Körpergefühl, Temperatur und Schmerz gibt. Angeblich haben wir sogar noch einen neunten Sinn: Tiere haben eine sensorische Fähigkeit, Bodenerschütterungen so schnell wahrzunehmen, dass sie im Falle eines Erdbebens rechtzeitig in höhergelegene Gebiete laufen können. Der Mensch hat diese Fähigkeit wohl eigentlich auch, hat diese Art der Früherkennung aber durch das Tragen von Schuhen und das Leben in Gebäuden, die uns von der Natur abschotten, unterdrückt. Es ist also ein Sinn, der uns durch die Art und Weise, wie wir in städtischen Umgebungen leben, verloren gegangen ist.

„Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, Gleichgewicht, Körpergefühl, Temperatur und Schmerz“

Wenn wir von der Natur lernen wollen, müssen wir ihr gut zuhören. Wie schaffen wir das?

Durch einen größeren Fokus auf Natur in der Früherziehung, aber auch durch die Gestaltung unserer Städte. Die Biophilie,  also die leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen, ist neben der Bionik eine sehr wichtige Design-Disziplin. Bei der Bionik geht es um funktionale Optimierung und darum, unser Tun in das Netz des Lebens zu integrieren. Bei der Biophilie handelt es sich eher um eine psychologische Disziplin: Wie wir uns fühlen, wie wir uns mit der Natur verbinden. Die Gruppe Terrapin Bright Green leistet hier wichtige Arbeit. 

Apropos Fühlen: Wie beeinflusst Architektur unser Leben, unsere Liebe, unser Glück?

Die bebaute Umwelt und unsere Lebensqualität sind unmittelbar miteinander verbunden. Der US-amerikanische Kulturphilosoph Charles Eisenstein beschreibt eine Geschichte der Trennung und meint damit die vorherrschende Idee, dass wir isolierte Individuen in einem Wettbewerbsspiel sind, à la „survival of the fittest”. Unsere heutigen Städte sind Manifestationen davon, vor allem die vorstädtische Zersiedelung, in der wenige Menschen in vielen getrennten Gebäuden leben. Die Urbanistin Sarah Ichioka und ich schlagen in unserem Buch „Flourish“ einen neuen Weg vor, wie wir Städte denken können. Wir haben dabei mit einer viel positiveren Sicht auf die Menschheit begonnen.

Eine positivere Sicht auf die Menschheit klingt in Zeiten wie diesen verführerisch? Das müssen Sie mir erklären!

Wir Menschen sind sehr empathische Wesen, wir können gut kooperieren. Wir sind glücklicher und gesünder, wenn wir in zusammenhängenden Gemeinschaften und in Kontakt mit der Natur leben. Wir nennen das „Symbiogenese“. Der Begriff wurde von der US-amerikanischen  Biologin Lynn Margulis geprägt, die herausfand, dass sich in Symbiose entwickelnde Organismen mit der Zeit neue Strukturen bilden. Symbiogenese begreift Design also als einen integrativen und ko-kreativen Prozess, der neue Strukturen und Lebensweisen hervorbringen kann.

„Wir brauchen öffentlichen Luxus für alle.“

Wie würde eine Stadt im Sinne der Symbiogenese aussehen?

Seit jeher streben wir als Individuen nach privatem Luxus, der selbstzerstörerisch ist. Der britische Journalist George Monbiot sagt, dass wir stattdessen private Suffizienz, also Zugänglichkeit, und öffentlichen Luxus für alle bräuchten. Wenn wir zum Beispiel alle ein eigenes Fitnessstudio, einen eigenen Tennisplatz und ein  eigenes Schwimmbad haben wollen, dann gibt es dafür einfach nicht genug Platz. Wir können sie aber als gemeinsame Einrichtungen schaffen und nutzen. Ich spreche hier von einer ökologischen Zivilisation in einer regenerativen Stadt, die eine bessere Lebensqualität erlaubt: saubere Luft, gesünderes Essen, eine bessere Verbindung mit der Natur. 

Was unterscheidet regeneratives Design von nachhaltigem Design?

Nachhaltigkeit will negative Auswirkungen reduzieren. Es reicht aber nicht aus, weniger schlecht zu sein – wir müssen Gutes anstreben. Es braucht einen systemischen, ganzheitlichen Ansatz. Der Schlüsselaspekt des regenerativen Designs ist die Nutzung unseres Ökosystems als Modell, damit wir alles miteinander verbinden und Zusammenhänge schaffen können. Die Biologistin Janine Benyus und Dayna Baumeister von Biomimicry 3.8 sagen, dass man bei der Planung einer neuen Stadt zunächst analysieren müsse, wie ein unberührtes Ökosystem in diesem Teil der Welt funktioniere: Wie viel Kohlenstoff bindet es, wie viele Wildtiere beherbergt es, wie viel Sauerstoff produziert es, wie viel Wasser speichert, filtert oder verdunstet es? Diese ökologischen Leistungskriterien setzen dann die Standards für das, was gebaut werden soll, damit sich die Stadt in das größere System einfügen kann.

„Es geht nicht darum, weniger schlecht zu sein.“

Gibt es Städte, in denen das schon funktioniert?

Die kleine Stadt Kalundborg in Dänemark war die erste Gemeinde, die eine symbiotische Beziehung zwischen all ihren Industrien aufgebaut hat, sodass die überschüssige Wärme, das Wasser, die Abfälle und andere Ressourcen, die übrig bleiben, zu Rohstoffen für andere Industrien und landwirtschaftliche Betriebe werden. So entsteht ein geschlossener Kreislauf. Wichtig in einer regenerativen Stadt ist auch der Raum zwischen Gebäuden. Das Projekt zur Sanierung des Cheonggyecheon-Flusses in Südkorea ist hier ein gutes Beispiel; dort wurde eine Autobahn abgerissen und der Fluss darunter freigelegt sowie ein linearer Park geschaffen, der heute das grüne Herz Seouls ist. 

Wie designt man etwas für die Ungewissheit?

Es gibt eine Strategie namens „taktischer Urbanismus“: Das sind schnelle, billige und einfache Interventionen. Neue städtische Initiativen brauchen oft Jahre für die Umsetzung. Lange Phasen der Konsultation und der Erstellung von Plänen verlangsamen das Tempo. „Taktischer Urbanismus“ setzt Beispiele rasch um, damit die Menschen sehen können, wie eine Veränderung im öffentlichen Raum längerfristig aussehen kann. Mit Hilfe von Farben, Möbeln oder Pflanzen erstellt man dabei temporäre Szenarien, die die Gemeinschaft einbeziehen und öffentliche Diskussionen anregen sollen. Janette Sadik-Khan, eine ehemalige Beauftragte des New Yorker Verkehrsministeriums, hat mit dieser Taktik etwa cviele Radwege in der Stadt geschaffen.

„Die wichtigste Triebkraft ist natürliches Licht.“

Bei der regenerativen Medizin wollen wir im Grunde unsere Körper dazu zu bewegen, dass uns – wie bei einem Salamander – Körperteile nachwachsen. Das hätte immensen Einfluss auf unsere Lebenserwartung. Könnte das bei Gebäuden auch funktionieren? Könnten sich Häuser irgendwann selbst erneuern, wachsen, sich selbst kompostieren?

Davon sind wir noch weit entfernt, aber es gibt sich selbst reparierende Materialien und Gebäude als lebende Strukturen. Eine Art von Beton namens Biobeton enthält zum Beispiel kalkbildende Bakterien, sodass sich ein Riss mit Kalziumkarbonat selbst füllen kann. Dr. Thomas Speck und seine Kollegen von der Universität Freiburg haben außerdem eine biomimetische, selbstreparierende Membran entwickelt. Die interessantesten Arbeiten passieren hier meiner Meinung nach im Bereich der Baubotanik.

Einige von Ihren Projekten kann man in der Ausstellung „Bionspiration – Die Natur als Vorbild“ im Technischen Museum Wien sehen, zum Beispiel Ihr Entwurf für ein biomimetisches Büro. Was hat es damit auf sich?

Wir haben für dieses Projekt mit dem Biologen Julian Vincent kooperiert. Zusammen haben wir wichtige Aufgaben des Büros aufgeschlüsselt: das Sammeln und Verteilen von Licht, die Aufrechterhaltung der Temperatur, Belüftung, Brandschutz und so weiter. Dann haben wir bei über hundert biologische Organismen analysiert, wie sie diese Aufgaben lösen. Die wichtigste Triebkraft für die architektonische Form war natürliches Licht. 

Warum?

Nicht nur aus energetischen Gründen, sondern auch für die Gesundheit der Menschen. Die Lichtqualität ändert sich im Laufe des Tages. Die Natur arbeitet in täglichen, monatlichen, saisonalen und jährlichen Zyklen. Sie sind in unserer eigenen Physiologie sichtbar, zum Beispiel in Form von Menstruationszyklen. Durch eine stärkere Nutzung des Tageslichts können wir uns mit diesen Rhythmen wieder mehr verbinden und gesünder leben. Anscheinend kann das Volk der Andamanen die Tageszeit erkennen, indem sie einfach schauen, was im Wald passiert. In unseren modernen Städten haben wir uns sehr von dieser Idee entfernt, aber wir könnten diese Verbindung wiederherstellen, indem wir mehr Natur in unsere gebaute Umwelt einbeziehen.

„Die Natur arbeitet in täglichen, monatlichen, saisonalen und jährlichen Zyklen.“

Zurück zum biomimetischen Büro. Was oder wer hat Sie dabei besonders inspiriert?

Eine Regenwaldpflanze namens „Anthurium warocqueanum“, die auf dem Boden wächst, wo sie keine direkte Sonnenstrahlen empfängt, sondern nur diffuses Licht. Sie hat aber Linsen auf ihren Blättern, die dieses bündeln können. Manche sagen, das sei physikalisch nicht möglich, ist es aber, diese Pflanze ist der lebende Beweis. Die Idee ist also, das Licht auf dem Dach des Bürogebäudes zu sammeln und in Glasfaserrohren zu bündeln, damit man es gezielt dorthin leiten kann, wo es gebraucht wird. 

Das Gegenteil der Natur ist, wenn man so will, die künstliche Intelligenz. KI und Architektur: Chance oder Bedrohung?

Richtig angewandt kann sie sehr nützlich sein. Stellen wir uns ein großes und komplexes Bauvorhaben vor; jede Wohneinheit soll die richtige Größe haben, viel natürliches Licht erhalten, in einer bestimmten Entfernung zu einer Grünfläche und einer Verkehrsanbindung liegen. Mit einer Methode namens „Genetische Algorithmen“ kann man eine sehr komplexe Optimierung erreichen. Man verwendet ein Computermodell des Standorts und seiner Einschränkungen. Die Software prüft dann Tausende von Gebäudeformen und testet diese anhand der festgelegten Parameter. Aus unzähligen zufälligen Variationen und Kombinationen wählt sie einige der besten aus und multipliziert diese. Durch ständiges Wiederholen erreicht die KI am Ende eine optimierte Version.

Das ist schon fast wie Evolution!

Ja, aber am Endes des Tages sollten wir Menschen entscheiden, ob wir diese Ergebnisse nutzen wollen oder nicht. Künstliche Intelligenz sollte ein Werkzeug sein, nicht unser Meister.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieser Beitrag ist in freundlicher Kooperation mit dem Technischen Museum Wien entstanden. Die Ausstellung Bioinspiration – Die Natur als Vorbild  mit über 200 Exponaten ist noch bis 3. September 2023 zu sehen. Mehr Informationen zum Thema Bionik finden sich außerdem im Bioinspiration-Zine, den digitalen Publikationen der Sonderausstellung. 
Michael Pawlyn (*1967) ist ein britischer Architekt, der für seine Arbeit auf dem Gebiet der biomimetischen Architektur und Innovation weltbekannt ist und die Bewegung Architects Declare im England mitinitiiert hat. Er gehörte zum Architektenteam, das das Eden-Projekt konzipierte. Sein Bestseller Biomimicry in Architecture wurde 2011 veröffentlicht. Gemeinsam mit der Urbanistin Sarah Ichioka publizierte er 2021 das Buch Flourish: Design Paradigms for our Planetary Emergency. Im Jahr 2007 gründete er das Architekturbüro Exploration Architecture.

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