DRAGQUEENS, PUPPYPLAY und BDSM, daneben Shootings für HUGO BOSS und LE MILE. Die Fotografien von Julian Melzer, der in Paris und Berlin lebt, oszillieren zwischen GLAMOUR und PROVOKATION.
Anderthalb Stunden lang sprechen wir über Julians Kindheit in der deutschen Stadt Worms, eine Suspendierung von der Schule, sein früheres kompliziertes Verhältnis zu seinen Eltern, davon, wie sie wieder zueinandergefunden haben und wie dankbar er ihnen heute ist. Er erzählt von seinem inneren Drang, Menschen zu helfen – eine Erkenntnis, die ihn schließlich zu einer Ausbildung als Erzieher führte. Wir sprechen über seinen Job in der Werbung, exzessive Partynächte, Drogen und wie ihn all das schließlich zurück zu seiner unerschütterlichen Liebe, der Kunst, führte –, bis wir dann zu dem Thema Fotografie kommen.
Rahel Schneider: Julian, wer bist Du, wenn Du alleine bist?
Julian Melzer:Das ist eine große Frage. Ich habe vor Kurzem gemerkt, dass ich vielleicht gar nicht so extrovertiert bin, wie ich immer dachte. Mittlerweile liebe ich es, alleine zu sein. Wenn ich in Wollsocken ARTE schaue, kann draußen die Welt untergehen.
Und trotzdem zieht es Dich immer wieder raus. Dein Job lebt ja vom Sehen und Gesehenwerden.
Es gibt so viele Menschen, die im Stillen Großartiges leisten, ohne dass es jemand mitbekommt. Das finde ich total bewundernswert. Aber ich habe irgendwann gemerkt: Ich will Kunst machen – und die auch zeigen. Klar, Bestätigung und Anerkennung dafür sind mir wichtig. Aber eine gesunde Selbstliebe kann das oft ersetzen: sich ruhig mal selbst applaudieren, wenn es sonst keiner tut. An den Punkt musste ich aber erst mal kommen. Gottbewahre, müsste ich nochmal 25 sein (lacht).
Julian entdeckte die Fotografie im Berliner Mauerpark – mit einer Kamera, die fast im Müll gelandet wäre. „Eine Freundin wollte sie wegschmeißen, aber ich habe sie gerettet. Dann wurde das zu meinem Ritual: sonntags in den Park, Musik hören, Leute fotografieren. Das Warten auf die entwickelten Fotos – das ist pure Magie! Was als Hobby begann, wurde ernst: mehr Shootings, größere Projekte, schließlich Editorials für bekannte Labels wie HUGO BOSS. „Diese Kampagne habe ich tatsächlich mit dieser alten Analogkamera geschossen!“
Styling: Saskia Jung, Styling Assistant: c/o Saskia, Hair: Gregor Makris, Make-up: Marija Pavleka, Hair & Make-up, 2nd Set Marilia Rohr, Location Scout: Anton Oliar, Set Design: Leonardo Papini, Set Design Assistant: c/o Leo, Talent: Ine via Modelwerk
Die Modeindustrie ist oft von Oberflächlichkeit geprägt. Du willst aber einen tieferen Sinn vermitteln. Wie gehst Du mit diesem Widerspruch um?
Ich bin relativ schnell tief in die Modewelt eingetaucht, habe dann aber gemerkt: Moment mal, schöne Menschen in schönen Klamotten vor schönen Hintergründen? Ich kotz' gleich!
Trotzdem sieht man auf Deinem Instagram-Account auch das: perfekt inszenierte Looks vor wunderschönen Kulissen.
Ich will Aufklärung mit Modefotografie verbinden und dafür die mir zur Verfügung stehenden Werkzeuge richtig einsetzen. Das ist wie mit einem Hammer: Ich kann damit etwas Schönes zusammennageln, ihn aber auch jemandem über den Schädel ziehen. Nicht der Beruf des Modefotografen oder das Werkzeug per se ist das Problem, sondern das, was man daraus macht. Ich versuche, meine Plattformen bewusst zu nutzen, um ein Sprachrohr für Minderheiten zu sein. Gerade jetzt, wo wir gesellschaftlich an so vielen Stellen scheitern – schau Dir nur die Wahlergebnisse in Deutschland mit den vielen Stimmen für die AFD an! Waren wir so sehr mit uns selbst beschäftigt, dass wir vergessen haben, anderen wirklich zuzuhören?
Yvonne Nightstand, fotografiert von Julian Melzer für das Projekt TOO QUEER FOR PUBLIC TRANSPORT, Konzept: Klaas Hammer, Looks: Naomi Tarazi, ULTRAVANTGARDE
Vor einigen Monaten berichtete der Tagesspiegel, dass die Angriffe auf queere Menschen zunehmen – selbst in Berlin, das für seine Diversität und Toleranz bekannt ist. Als Reaktion darauf hast Du gemeinsam mit dem Künstler Klaas Hammer das Projekt „Too queer for public transport“ realisiert, für das Ihr die Dragqueen Yvonne Nightstand, Finalistin der Fernsehshow „Drag Race Germany“, an öffentlichen Orten in Berlin fotografiert habt. Wie lief das Shooting ab?
Wir dachten, wenn wir zu einer abgelegenen U-Bahn-Station fahren, haben wir unsere Ruhe, aber das war leider nicht der Fall. Während Yvonne sich umzog, hörte ich plötzlich einen Typen hinter uns, der uns Beleidigungen zurief. Es war echt surreal, wir wollten genau solche Reaktionen in dem Projekt thematisieren und dann passiert das direkt vor unseren Augen.
Wie habt Ihr reagiert?
Für mich war es ein richtiger Schock. Alle anderen waren entspannt, weil sie solche und viel schlimmere Dinge eben ständig erleben. Ich hab in dem Moment realisiert, wie sehr solche Anfeindungen für viele normal sind. Wie traurig ist das? Ich bin dann zu dem Typ hin und habe ihn angesprochen. Ich wollte wissen, was sein Problem ist und ihm in Ruhe erklären, was wir hier machen. (Julian scrollt auf seinem Handy und zeigt ein Bild eines jungen Mannes mit einem Joint in der Hand.)
… das ist er?
Ja, genau. Er hat dann irgendwann eingesehen, was er da von sich gegeben hatte. Bevor ich zurück zu den anderen ging, durfte ich ein Bild von ihm machen. Das war mein Highlight. Es zeigt, wie Diskurse Sichtweisen auf etwas verändern können.
Mitten in Julians selbst diagnostizierter Midlife-Crisis – ausgelöst durch seinen inneren „Werte-Zoff“ mit der Modeindustrie und latentem Weltschmerz – suchte er auf Fuerteventura nach Klarheit. Trailrunning (ständiger Wechsel zwischen bergauf und bergab, zwischen Laufen, Wandern und schnellem Gehen, Anm. d. Red.) sollte ihn wieder zu sich selbst führen. Doch der Plan ging nicht auf: „Nach ein paar Tagen musste ich mit gebrochenem Fuß zurück zu meinen Eltern nach Worms geflogen werden.“
Zurück in seinem alten Jugendzimmer, weit weg von Berlin, Paris und den Kanaren, entstand die Idee zu seinem Projekt „ERROR“ – einer Ausstellung über das Scheitern, über Fehler, die wir machen, und über das, was wir daraus lernen können.
Teil der Ausstellung sind Fotografien von Annika, eine Freundin von Julian, die dazu sagt: „Von außen habe ich nicht viel Hass erfahren, das größte Problem waren eigene Zweifel an mir selbst.“
Vergangenes Jahr hast Du Deine Ausstellung „ERROR“ in Deiner Heimatstadt Worms präsentiert. Die analogen Fotografien setzten sich auf inhaltlicher und technischer Ebene mit dem Thema Fehler auseinander. Jetzt wird die Ausstellung in der Quantum-Galerie in Berlin gezeigt – diesmal mit dem Untertitel „FULL OF HATE“. Neben Fotografien umfasst sie auch Installationen und Performances, die einen Diskurs über Hass und soziale Ausgrenzung anstoßen sollen. Wie reagieren die Leute auf diese ernsten Themen?
Ganz anders, als ich erwartet hätte! Eine Lehrerin von meiner alten Schule – von der ich übrigens damals geflogen bin – hat meine Ausstellung in Worms besucht. Sie war so begeistert, dass sie mich gefragt hat, ob ich Lust hätte, mit ihren Schülerinnen über gesellschaftlichen Druck zu sprechen. Ich dachte mir: Wow, das heißt wohl, ich bekomme Zugang zum Lehrerparkplatz ...
... und zu Lehrertoiletten!
Count me in – diesmal benehme ich mich! (lacht)
Was hat Dir die Zeit mit den Schülerinnen gegeben?
Es war unglaublich inspirierend. Selbst in der fünften Klasse habe ich auf die Frage, was man für ein gutes Bild brauche, von Sören aus der letzten Reihe die Antwort „Wertschätzung“ bekommen. Ich wäre vor Ergriffenheit am liebsten auf allen vieren aus dem Saal gekrochen. Wir haben dann in Kleingruppen Fotoprojekte erarbeitet – und die Kids haben Themen wie den Ukraine-Krieg, sozialen Druck und Depression gewählt. Man sollte Kinder niemals unterschätzen!
Mal eine andere Zielgruppe!
Total, nach meinen drei Tagen an der Schule ist der Altersdurchschnitt meiner Instagram-Follower gefühlt um 20 Jahre gesunken – plötzlich musste ich aufpassen, was ich poste (lacht)! Aber genau darum geht es mir in meiner Kunst: Sie soll nicht nur für eine exklusive Szene sein, sondern auch Menschen erreichen, die sich sonst nicht mit Kunst beschäftigen. Wenn sie Menschen zum Nachdenken bringt, ist ihr Zweck erfüllt.
Muss Kunst auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen?
Dem kann man sich gar nicht entziehen. Kunst ist immer ein Spiegel unserer Gesellschaft, Lob an der Gesellschaft, Kritik an der Gesellschaft. Selbst wenn man versucht, sich von allem zu distanzieren, positioniert man sich unweigerlich. In meinen Arbeiten porträtiere ich meine Freundinnen – Menschen, zu denen ich eine enge Verbindung habe. Ich sehe jeden Tag, wie sie Ausgrenzung erfahren. Mit meiner Kunst möchte ich ihnen nicht nur eine Bühne bieten, sondern vor allem einen Raum schaffen, in dem Menschen unabhängig von Herkunft oder Identität zusammenkommen können. Gerade als weiße, privilegierte Person sehe ich es als meine Verantwortung, gegen Ungerechtigkeit vorzugehen – denn es sind Menschen wie ich, von denen diese Exklusion oft ausgeht. Trotzdem werde ich niemals nachempfinden können, wie es sich anfühlt, tatsächlich einer Minderheit anzugehören. Aber ich kann zuhören, verstärken, sichtbar machen.
Als Dankeschön für sein Engagement in der Schule überließ ihm seine ehemalige Kunstlehrerin ein ganz besonderes Geschenk: einen Schlüssel zu ihrer kleinen, leer stehenden Wohnung in Paris. „Sie wollte mal dort als Malerin arbeiten und hatte sich diese Wohnung gekauft, war aber nie eingezogen.“
Seit einigen Monaten wohnst Du im zweiten Arrondissement in Paris direkt neben dem Louvre, keine schlechte Adresse. Wo fühlst Du Dich mehr zu Hause: Berlin oder Paris?
Ich habe mir letztens eine neue Kuhfell-Tasche gekauft, die ich total cool finde. In Berlin würde man sich eher die Zunge aus dem Mund schneiden, als mir ein Kompliment zu machen. Aber in Paris hat die Tasche schon einige Verehrerinnen gefunden!
Paris kann aber auch ziemlich zickig sein, oder?
Klar kann die Stadt überwältigend sein. Aber Freiheit bedeutet für mich, so viele verschiedene Perspektiven wie möglich zu erleben. Und Paris ist für mich genau das – Multikulturalität in ihrer reinsten Form. Ich liebe es, immer wieder neue Ecken dieser Stadt zu entdecken.
Und was tust Du, wenn Paris Dir zu viel wird?
Dann grabe ich mich in meiner acht Quadratmeter großen Wohnung ein und schaue ARTE in Wollsocken.
Merci pour cette conversation. Bonne journée à toi!
Julian Melzerwurde 1988 in Worms geboren und studierte nach einer abgeschlossenen Erzieherausbildung Kommunikationsdesign in Mainz. Nach einigen Jahren als Creative Director in der Werbebranche machte er die Fotografie zu seinem Hauptberuf. Heute arbeitet und lebt er zwischen Berlin und Paris.
Noch bis zum 26. April läuft seine Solo-Ausstellung „ERROR – Full of hate“ in der Quantum-Galerie in Berlin. Neben Fotografien sind auch Installationen und Performances Teil der Ausstellung, die einen Diskurs über Hass und soziale Ausgrenzung anstoßen soll.