Die Schlafwandlerin

Vom Apfelstrudel zum Big Apple

Zwischen Realität und Tagtraum: Wir trafen Musikerin und Model BEAKS aka Anna Francesca im legendären Gürtelcafé Weidinger und fotografierten sie in Helmut Langs ikonischer Fallwick-Kollektion aus den Achtzigern.

Text: Elisa Promitzer, Fotos: Maša Stanić

„Eine Kegelbahn, Carambolage-Tische, Käsetoast“

Elisa Promitzer: Wir sitzen heute im Café Weidinger und fotografieren die limitierte und legendäre Fallwick-Kollektion von Helmut Lang, die in Kooperation mit Gössl-Trachten 1984 entstand. Es sind seltene Stücke aus den Gründungsjahren von Österreichs erfolgreichstem Designer.

Anna Francesca: Ich bin gerne im Weidinger. Früher feierten wir hier öfter Geburtstage. Eine Kegelbahn, Carambolage-Tische, Käsetoast – was will man mehr? In Helmut-Lang-Klamotten saß ich hier aber noch nie (lacht). Für die Marke gearbeitet habe ich bisher nicht, nur bei Shootings einzelne Stücke getragen. Seine Pieces sind sehr cool, nur leider oft zu klein für meine 1,82 Meter.

Wir haben fast die ganze Kollektion dabei – und fünf Kilogramm Äpfel!

Ich bin kein Trachten-Mensch und besitze kein Dirndl – nur einen Strick-Janker von meiner Oma. Aber Äpfel liebe ich und Helmut Lang natürlich auch (lacht).

Was wolltest Du als Kind werden?

Autorin! Ich war eine richtige Leseratte, lebte in meiner eigenen kleinen Welt und schrieb Kurzgeschichten und Romane, wobei letztere nie fertig wurden. Seit ich fünf Jahre alt bin, träume ich vom Leben als Schriftstellerin …

… mit Zigarette und Kaffee …

… (sie schlürft zwinkernd ihren Verlängerten) Sieht man von diesen Klischees ab, blieb das Schreiben – das liebe ich über alles, in meiner Wohnung stapeln sich unfertige Manuskripte über Manuskripte.

„Plötzlich tanzen Wortfetzen."

Nicht die Musik, sondern der Text brachte Dich zur Musik. Sind Worte Dein Instrument?

Meine Eltern sagten immer, dass unsere Familie total unmusikalisch sei. Erst in Wien lernte ich Menschen kennen, die Musik machen – meine heutigen Freunde. Die Bemerkung „Anna, Du schreibst die ganze Zeit, willst Du nicht mal etwas ausprobieren?" brachte mich dazu, ein Gedicht musikalisch vorzutragen. Da hatte ich dann Blut geleckt.

Auf Instagram veröffentlichst Du Beobachtungen wie: „Wien, mitten im Passantenstrom steht ein Mann in weißem Anzug mit blassrosa Ansteckblume und pfeift ein Lied. Dahinter auf einer der Bänke wie sie vor Bahnhöfen stehen, sitzt breitbeinig eine alternde Dame mit Kurzhaarschnitt und rasiert sich gewissenhaft einen Handspiegel haltend ihre Oberlippe.“ Wie wird daraus Musik?

Bei einer Musiksession, blättere ich durch mein Notizbuch, das ich immer bei mir trage, und plötzlich tanzen Wortfetzen, die bis dahin keinen Sinn machten, im Einklang mit der Musik. Während dem Schreiben weiß ich oft selbst nicht, was ich damit meine. Ich bin nicht die krasseste Sängerin, meine Musik lebt von meinen Texten. Tägliche Beobachtungen und Gedankenspiele, die ich miteinander kombiniere – wie ein Puzzle –, sind die Basis meiner Musik. Aber nicht alle Songs sind ein Seelenstriptease: Manche meiner Lieder, wie zum Beispiel „The unreliable Narrator“ sind Fantasiegeschichten. 

„Nicht alle meine Songs sind ein Seelenstriptease."

Dein letzter Song heißt „White Lies“. Seelenstriptease oder Fantasiegeschichte?

Es ist ur-traurig. Diesen Song schrieb ich als meine Oma im Sterben lag …

Meine Oma starb vor acht Jahren. Ich koche Topfenpalatschinken, um ihr nah zu sein – Du hast ein Lied über Deine Oma geschrieben.

Das ist einer meiner Lieblingssongs – ich höre ihn nicht nur privat am liebsten, sondern spiele ihn auch gerne bei Live-Performances. Wenn ich an meine verstorbene Oma denke, zieht mich das nicht runter, sondern baut mich auf. Es ist eine Möglichkeit, dem Scheusal des Vergessens zu entkommen. Ich höre den Song, wenn es mir nicht gut geht – weil er mich daran erinnert, dass ich alles schaffen kann, dass man durch alles durchkommt. Ich singe „Thunder – it got me shivering, when it rains in pulls I try to soak it in“. Ich versuche dieses „Man kann es aushalten“-Gefühl zu konservieren. Klar, es ist ein trauriges Lied, zu dem man gut weinen kann. Aber ist das etwas Schlechtes?

Konntest Du Deiner Oma Deine Musik vorspielen?

Nein, leider nicht. Aber sie hört mir bestimmt zu. 

„Man kann es aushalten."

Ein Hauch von Traurigkeit zieht sich durch all Deine Songs, oder?

Findest Du?

Beweis mir das Gegenteil: Was ist Dein fröhlichstes Lied?

Jetzt, wo Du es sagst … (lacht). „Bite me“ finde ich nicht traurig, „Dirty Girls“ auch nicht. 

In „Dirty Girls“ singst Du: „How do dreams work? Will I wake up if I die?“

Was alle meine Lyrics gemeinsam haben: Sie sind nachdenklich, ein bisschen melancholisch und, wenn man genau hinhört und sie richtig versteht, ermutigend.

Du bist viel unterwegs: Du bist nicht nur Musikerin, sondern auch Model – und das sehr erfolgreich. Traumjob oder Geldspritze für die Musik?

Ich arbeite seit 2018 als Model. Es macht mir Spaß, aber am Ende ist es einfach nur ein Job. 

„Ich höre fast nie Musik.“

Ich habe Deinen Instagram-Feed bis zu Deinen Anfangszeiten durchforstet und ein Video von Deinem 16-jährigen Ich gefunden. Dein Papa filmte Dich beim Skaten für ein Bewerbungsvideo für einen Modeljob. Hast Du ihn bekommen?

Nein, natürlich nicht. Hast Du gesehen, wie ich Skateboard gefahren bin? (lacht) Als ich nach Wien zog, hatte ich viele Skaterfreunde und versuchte es erneut. Eines Tages erlitt ich einen Bandscheibenvorfall – mit 21 Jahren, vom Skaten. Damit endete meine „Karriere", aber zum Glück nicht die als Model. Einer der prägendsten Momente war, als ich vor ein paar Jahren bei der Paris Fashion Week die Show für Celine eröffnete: Wann immer ich den Soundtrack „Calling it" von Automatic höre, fühle ich mich zu diesem krassen Moment zurückgebeamt.

Ist das Leben als Model stressig?

Oft bleibt kaum Zeit zum Essen – nicht, weil Models nichts essen, sondern weil alles so hektisch ist. Also begann ich vor ein paar Jahren, mir jeden Tag einen Apfel im Supermarkt zu kaufen, ihn im Gehen zu essen und das in meinen Instagram-Stories zu teilen. Manchmal, wenn ich heute auf der Straße einen Apfel esse, erinnere ich mich daran – und poste. Übrigens:  Ich esse natürlich mehr als einen Apfel am Tag.

„Will I wake up if I die?“

Hast Du auf dem Weg zu unserem Interview Musik gehört?

Fun Fact: Ich höre fast nie Musik.

Du machst Musik, aber hörst wenig. Du schreibst, liest Du auch wenig?

Ganz im Gegenteil: Ich lese zwei bis drei Bücher pro Woche. In meinem Bücherregal stehen keine Book-Tok-Trends und Neuerscheinungen, sondern vor allem Klassiker. Bibliotheken sind ideal, um Schätze zu entdecken. Der finanzielle Vorteil hält sich bei meiner chaotischen Ader allerdings in Grenzen: Ich musste das letzte Mal 45 Euro Strafgebühren zahlen. Aktuell bin ich ultra-obsessed mit Jack Kerouac und der gesamten Beat-Generation. Im Dschungel der Neuerscheinungen verliert man schnell den Überblick, deswegen arbeite ich mich zeitlich von früher nach heute durch.

Dann liest Du die Bestseller von heute im Alter von 80 Jahren?

Damit das gelingt, müsste ich noch deutlich schneller werden.

„Schwelle zwischen Realität und Fiktion"

Was ist Dein Lieblingsbuch? Kann Du uns etwas empfehlen?

Aktuell ist das Buch „Glasglocke“ von Sylvia Plath mein Favorit. Das als junge Frau zu lesen, ist krass. Die Protagonistin, Esther Greenwood, durchlebt den Sommer 1953: Sie beginnt ein Volontariat bei einem New Yorker Modemagazin, kämpft mit einer schweren Depression, begeht einen Suizidversuch und begibt sich in psychiatrische Behandlung. Die Gefühle, die diese junge Frau aufschreibt, sind zugänglich und man kann sich damit identifizieren. Das liegt vielleicht auch daran, weil es im Jahr von Plaths eigenem Selbstmord erschien. Ich liebe Non-Fiction. Man tanzt an der Schwelle zwischen Realität und Fiktion, ohne zu wissen, welcher Seite man näher ist. Das versuche ich auch mit meiner Musik zu schaffen.

Wenn Du nur noch eine letzte Sache fühlen könntest, welche wäre es?

Achtung, Ironie: Happiness, Balance, Zen (lacht).

Ich habe nichts anderes erwartet! Trauer oder Wut?

Wut.

Du schreibst: „Wohin gibt man die Wut, wenn die Jacke keine Taschen hat und sie dir lächelnd gegenüberstehen? Leere Hände strecken dir keine Streichhölzer entgegen, und du weißt, du bist das Einzige, das brennt. Schluck den Schrei, er ist nicht gerechtfertigt. Niemand außer dir hat Schuld, dass du dir selbst die Rippen brichst." Danke für Deine Zeit!

Danke an das Café Weidinger in Wien und an Christoph Pfandler vom Vintagemodegeschäft Polyklamott für die Kollektion, die käuflich zu erstehen ist.

Maša Stanić (*1994) ist eine serbisch-österreichische Fotografin und Künstlerin. Sie shootet für Modelabels, Künstlerinnen und Magazine wie Das Wetter, SZ oder ZEIT. Ihre Arbeiten wurden in mehreren Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt, unter anderem im Belvedere 21 in Wien.

Jovan Glušica (they/them) ist ein in Wien lebender serbischer Stylist, Visagist und Artist. 

Sarah Bzoch arbeitet als Freelance Haar- und Make-up-Künstlerin im Mode- und Beautybereich u.a. für Vogue Italia, Kaltblut Magazine, Atlas Magazine etc.

Dirndl & Zopf

Text: Antje Mayer-Salvi, Fotos: Vrinda Jelinek, Produktion: Nicole Adler, Stylist: Ilija Milicić, Hair Stylist: Nieves Elorduy, Models: Joya A., Helena (beide Stella Models), Vova, Ewelina, Annie (Das Deck), Studio: Roland Unger

DIRNDL und ZOPF – was hat es mit diesen traditionellen MODEPHÄNOMENEN auf sich, und wie sehr hat sich das Tragen von diesen in der Gegenwart verändert? 

„Woher kimmsch'n Du?“

Text: Antje Mayer-Salvi, Fotos: Andreas Kronthaler

Selbstporträt in pinken Schlüpfern

Aufgewachsen ist der Modedesigner Andreas Kronthaler, Ehemann von Vivienne Westwood, im Zillertal in Tirol. Wir könnten ihn fragen, wie es so war, Tee mit Prince Charles zu trinken. Tun wir aber nicht. Wir sprechen über die Mostbeer-Nocken seiner Oma und die Pelzmäntel der alten Tante in Graz. Inzwischen ist Vivienne Westwood verstorben. Wir haben das Gespräch nicht geändert und so belassen, wie es damals kurz vor ihrem Tod gehalten wurde.