Der Fetz’n-Müller

mehr ist mehr

Kritzendorf, die Donau hinauf, knapp 30 Autominuten von Wien. Dort regiert der Fetz’n-Müller, der österreichische Stoffkaiser, sein Reich. Das legendäre Textilgeschäft ist eine Institution, eine Pilgerstätte für Modedesignerinnen, Wiener Kunststudierende und Mekka der Do-it-yourself-Anhängerschaft. Aufräum-Ikone Marie Kondō hat hier Hausverbot: Wir trafen den legendären 77-jährigen Gründer Franz und seinen baldigen Nachfolger, den gebürtigen Bosnier Adnan, Adi, Beslagić. In ihrem Büro hängt ein Schild mit einer Ziege an der Tür: „Hier gibt’s nichts zu meckern.“ Stimmt.

„Das Erlebnis von Suchen und Finden ist etwas Schönes!“

Da steht ein Astronaut vor Ihrem Haupteingang! Was macht der denn hier?

Franz Müller: Der hat mir einfach gefallen, den habe ich gekauft! Aber eigentlich muss er mal weg ...

Adnan Beslagić: Der ist irgendwie so passiert, wie alles hier irgendwie passiert ist. Auch wenn uns die Kundinnen das oft nicht glauben, wir haben den Überblick. Aber das heißt natürlich nicht, dass alles geplant ist. Wir lieben es halt, bei Geschäftsauflösungen und auf Flohmärkten Allerlei zu erstehen. 

„50 Millionen Laufmeter aus aller Welt“

Wie viel Allerlei und Stoff sehen wir denn hier?

Adi: Was Sie sehen, ist bei Weitem nicht alles. Wir nennen unser Geschäft liebevoll „Musterzimmer“. Es gibt drei große Lagerhallen hier in Kritzendorf und ein weiteres Lager mit 4.700 Quadratmetern in Schwechat. Gesamt haben wir rund 5.000 Tonnen Textil, 50 Millionen Laufmeter aus aller Welt. Pro Woche kommen ca. 50.000 Laufmeter dazu. Ich kaufe von den bekanntesten Konfektionären europaweit: Leder von Versace, auch von Salvatore Ferragamo, Umhänge von Max Mara und so weiter. Wir bekommen zweimal im Jahr die Reste der aktuellen Kollektionen; das heißt, wir haben die Stoffe zu einem Zeitpunkt, an dem die konfektionierte Ware noch gar nicht im Handel ist! Erst heute haben wir wieder eine Lieferung bekommen: zwei volle Lkws mit Stoffen aus Italien, darunter auch wieder feinstes Leder. 

Wie beherrscht man solche Stoffmassen?

Franz: Es ist eine chaotische Ordnung – oder besser gesagt eine Chaosordnung. Ich bin wie ein Fotograf ohne Kamera: Ich merke mir alles. Ich verbringe jeden Tag im Lager, helfe beim Verladen und Ausladen. Sie können mich nach jedem erdenklichen Stoff fragen, und ich kann Ihnen sofort sagen, in welchem Lager oder Regal er zu finden ist. Wir schätzen unser System und weigern uns, alles vermeintlich schön und neu zu machen. Unsere langjährigen Mitarbeiterinnen sind unsere Computer – und die sind sehr ehrgeizig. 

Adi: Die Leute hatten Angst, dass ich nach der Übergabe alles erneuere. Aber das ist Blödsinn! Wir sind nostalgisch, wir sind stolz auf dieses Wachstum und die Ordnung. Alles hier hat Geschichte. 

„Es ist eine chaotische Ordnung. Ich bin wie ein Fotograf ohne Kamera: Ich merke mir alles.“

Es gibt kein Computersystem für den Lagerbestand?

Adi: Wir haben eine Registrierkassa, das ist aber auch schon alles. Kein Computersystem, wenige E-Mails, viel menschlicher Kontakt! 

Wer kauft bei Ihnen ein?

Adi: Jung und Alt, Designerinnen aus aller Welt. Wir haben zum Beispiel eine Stammkundin aus Paris und sogar Kundinnen aus Osaka. Wir sind anders, und das wissen die auch. Die französische Kundin erzählt immer, dass es in Paris nichts Altes mehr gibt, alles wird zerstört oder erneuert. Bei uns wird sie aber an die alte Zeit erinnert – und das inspiriert sie. Viele Theaterhäuser kaufen bei uns ein, sogar aus New York, und viele europäische Filmproduktionen. 

Franz, wie wurden Sie zum „Fetz’n-Müller“?

Franz: Durch die Zufälle des Lebens! Ich nenne meine Arbeit immer einen „Verlegenheitsjob“. 1962 habe ich an der Agrar-Fachmittelschule Wieselburg an der Erlauf, wo ich auch aufgewachsen bin, maturiert. Ich bin aber nie im Agrarbereich gelandet. Ich habe in der Taschenproduktion gejobbt, wo ich mit Textilien, Kunstleder und PVC-Folien gearbeitet habe. Damals hat es ja noch keine Plastiktascherl gegeben! Ich habe damals gute Stoffreste-Kontakte aufgebaut. Die habe ich dann eines Tages nicht mehr einfach so an Bekannte weitergegeben, sondern ein Geschäft daraus gemacht.

Wie ging es dann weiter?

Franz: Ich habe selbst Reste aus Textilfabriken geholt, zum Einkaufspreis von fünf Schilling das Kilo, und diese dann für das Achtfache verkauft. Mit nur 4.000 Schilling habe ich mich selbstständig gemacht, denn nur in der Selbstständigkeit kann man sich verwirklichen. Das ist meine Meinung. Mit viel Fleiß, Leib und Seele. Ich arbeite immer noch 100 Stunden pro Woche. 

Sie müssen Stoffe wirklich lieben …

Franz: Hätte ich etwas anderes gemacht, wäre ich genauso ehrgeizig bemüht. Wenn Sie etwa meine Chefleute wären, würde ich Ihnen ebenso beweisen, dass ich mein Geld wert bin! 

Adi: Das stimmt nicht ganz. Wenn Franz ein Stoff besonders gut gefällt, küsst er ihn! Es dauert dann auch eine Weile, bis er sich bereit erklärt, ihn zu verkaufen.

„Ich habe gute Hax’n am Bauernhof bekommen. Das erklärt vielleicht meine Ausdauer.“

Gibt es eine Bastelanleitung für Ihren Erfolg?

Franz: Mut und Instinkt. Ich bin kein gelernter Kaufmann, meine Ausbildung war meine Kindheit am Bauernhof. Dort wurden mir Sauberkeit und Ehrgeiz beigebracht. Man muss sich „sauber“ verhalten – gegenüber den Lieferanten, Kundinnen, Mitmenschen. Und gute Hax’n habe ich dort auch bekommen. Der Schulweg war 5 Kilometer lang. Das erklärt vielleicht meine Ausdauer. 

Was bedeutet für Sie Schönheit? Was macht einen Stoff schön?

Franz: Da fragen Sie mich jetzt zu schnell! Da muss ich nachdenken. Diese Entscheidung überlassen wir unseren Kundinnen, glaube ich. Das wäre ja sonst Gedankenvergewaltigung! 

Aber Sie müssen doch ein persönliches Verständnis von Schönheit haben!

Franz: Ein Stoff alleine ist nicht schön, er wird erst durch den schöpferischen Gedanken schön. Es braucht gewisse Zutaten – ein Modell, eine Designerin. Kreativität! Die Schönheit der Inspiration! Wir wollen niemandem unsere Meinung aufdrängen, wir wollen nicht einmal etwas empfehlen. Das Erlebnis von Suchen und Finden ist etwas Schönes! Wir zeigen, was möglich ist, und lassen andere entscheiden, wie sich ein Körper durch Stoffe verändern soll.

„Es ist schön, Menschen dienen zu können.“

Adi: Schönheit kann alles sein, nicht nur etwas Optisches. Für uns ist speziell die Zufriedenheit unserer Kundinnen etwas Schönes.

Franz: Es ist schön, Menschen dienen zu können. 

Wir machen eine Tour durch das Haupthaus und die drei Lagerhallen – keine fünf Gehminuten voneinander entfernt, trotzdem werden wir von Adi höchstpersönlich mit dem Auto chauffiert. 

Ist dienen schöner, als bedient zu werden?

Franz: Aber ja! Ich habe mir nie etwas aus der Firma genommen, ich sage immer: „Mein letztes weißes Hemd hat keine Taschen.“ Natürlich hätte ich in jungen Jahren gerne einen Sportwagen gehabt, trotzdem habe ich das Geld immer im Betrieb gelassen. Ich führe das Unternehmen seit vielen Jahren ohne Bank, nur mit Eigenkapital.Unabhängigkeit ist das Um und Auf! 

„Mein letztes weißes Hemd hat keine Taschen.“

Wie möchten Sie den Menschen dienen?

Adi: Wir wollen den kreativen Menschen helfen, sich zu entwickeln und zu entfalten. Das ist für viele eine Budgetfrage. Nähen, Stricken und Basteln muss leistbar sein und bleiben – und dafür sorgen wir. 

Franz: Es geht darum, optimal und billig zum Produkt zu kommen, anstatt optimal viel Geld den Kundinnen zu holen. Rücksicht gibt bei uns den Takt vor, nicht schnelles Abcashen. Wir sorgen dafür, dass andere sich verwirklichen können. Das ist eine schöne, aber auch moralische Verantwortung.

Was hat sich im Laufe der Zeit im Stoffhandel geändert?

Adi: Früher hat man genäht, weil man sparen wollte. Das ist heute anders. Man kann T-Shirts um drei oder vier Euro kaufen. Der Meterwarenhandel hat den Fehler gemacht, die dahinschwindende Kundschaft durch höhere Preise wettmachen zu wollen. Bei uns kann man einen Meter ab 30 Cent kaufen.

Und wie viel kostet bei Ihnen der teuerste Stoff?

Adi: 16 Euro, für einen Meter Walkloden-Stoff. Der wird sogar extra für uns produziert und ist in drei verschiedenen Qualitätsstufen und 25 Farben erhältlich!

„Das ist der Pandaburli!“

Sind Sie religiös?

Franz: Ich selbst bin katholisch getauft, lebe aber mit allen anderen Religionen in einem respektvollen Miteinander. Ich bin Gott dankbar, dass er mir diese Kraft geschenkt hat. Sogar der Erzbischof von Wien, Christoph Schönborn, ist einmal bei uns vorbeigekommen!

Erzählen Sie mehr!

Franz: Das war vor ungefähr 15 Jahren, er hat sich für mein karitatives Engagement bedankt. 20 Jahre lang habe ich regelmäßig über 30 weißrussische Kinder eingeladen, drei Wochen bei mir zu wohnen. Die gesamten Reisekosten gingen auf mich.

Wofür haben Sie noch gespendet?

Franz: Viele Kastrationen und die Unterstützung von mehreren in- und ausländischen Tierheimen.

Wenn Franz nicht gerade im Lager oder in den Verkaufsräumen herumschwirrt, kümmert er sich um seine Katzen. Sein Rekord: 35 Adoptivkatzen waren es einmal gleichzeitig. Er hat seinen Lieblingen ein kleines Reich gebaut: „Müller Franzls Katzenhaus“ befindet sich im Innenhof des Gebäudekomplexes. Dort wohnen sie: Dreibeinige, Blinde, vom Baum Gerettete. Alle würden ihn Papa nennen. Wenn er Ruhe von den Menschen braucht, gehe er zu den Katzen, gibt Franz zu. Er verschwindet kurz, kommt wenige Minuten später stolz mit einem wohlgenährten schwarz-weißen Kater zurück: „Das ist der Pandaburli!“ 

Bleiben wir beim Katzen-Content. Wie bewerben Sie den Betrieb in Zeiten von Social Media?

Franz: Wir brauchen keine Werbung. Sauberer Umgang mit Menschen ist unsere Werbung.

Wir verabschieden uns nach dem über zweistündigen Gespräch und bekommen als Dankeschön für unsere Zeit noch zwei Riesenschachteln Pralinen mit auf den Heimweg von dieser Oase der Freundlichkeit. 

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