Die Sünderinnen

Süßes, sonst gibt’s Saures

Kekse in der Weihnachtszeit, Torte zum Geburtstag, Schwedenbomben im Lockdown. Naschereien sind Kulturgut und Seelentröster, auch wenn sie in letzter Zeit zunehmend in Verruf geraten sind – Zucker wirke im Gehirn wie Heroin, mache süchtig und sei ungesund. Wir widmen den leckeren Sünden hier genau den Platz, der ihnen unserer Meinung nach gebührt, und präsentieren süße Erinnerungen von Künstler Yoshinori Niwa, ORF-Moderatorin Ani Gülgün-Mayr, Philosophin und Künstlerin Elisabeth von Samsonow, Podcasterin Jeanne Drach, Poetry-Slammerin Mieze Medusa, Süßigkeitengeschäftbesitzer Iyad Abou Shahin und Konditorin Julia Kilarski.

„Es war geradezu eine Mutprobe, Salmiakki zu probieren.“
Yoshinori Niwa
japanischer Künstler, lebt in Wien

Vor über zehn Jahren arbeitete ich in Japan in Teilzeit als Zimmerreiniger in einem Love Hotel, so nennt man bei uns Stundenhotels. Manchmal kackte oder pisste ein Gast auf die Bettlaken, und ich musste dann die Exkremente entfernen – das war schrecklich. Im Grunde war es aber eine langweilige Arbeit, ich verbrachte die meiste Zeit damit, zu warten und schlug die Zeit mit Shōgi, einer japanischen Schach-Variante oder Kartenspielen tot. 

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem eine Mitarbeiterin von einer Finnlandreise zurückkam und uns als Souvenir finnische Bonbons namens Salmiakki mitbrachte. In Japan ist es üblich, Arbeitskolleginnen von Geschäftsreisen typische Lebensmittel oder alkoholische Getränke mitzubringen, die dann im Büro gemeinsam verkostet werden. Es war geradezu eine Mutprobe, diese Bonbons zu versuchen, aber ebenso undenkbar, es nicht zu tun. Sie haben gestunken, waren schwarz glänzend und total geschmacklos. Das scheint natürlich ein Widerspruch zu sein. Bis heute erinnere ich mich an ihren Geschmack, obwohl sie nach nichts schmeckten! Diese lakritzartige Süßigkeit kann ich nach wie vor nicht ausstehen.

„Von weichen Daunen umhüllt den leckeren Ribiselkuchen essen.“
Ani Gülgün-Mayr,
Moderatorin bei ORF III

Ich kam 1972 als Zweijährige mit meiner Familie aus Istanbul nach Wien. Meine Eltern waren Gastarbeiterinnen und wir wohnten in einer kleinen Hausmeisterwohnung. Während meine Mutter freitags immer die Stiegen reinigte, besuchte ich Frau Holzer auf Tür 15. Eine kinderlose, alte Witwe, deren Ehemann im Krieg gefallen war. Sie erzählte mir, wie die „bösen Russen“ gekommen waren und alles zerstört hatten. Von dieser Sicht der Geschehnisse war sie nicht abzubringen. Mir war der Eintritt nur bis in ihre Küche gewährt. Dort backte sie den besten Ribiselkuchen der Welt. Schon der Geruch versprach mir die schönsten Gaumenfreuden! Wenn hin und wieder die Tür zu ihrem Schlafzimmer offen stand, sah ich ihr stets sorgfältig gemachtes Bett, das so pompös aufgebettet war, als hätte Frau Holle persönlich die Tuchent aufgeschüttelt. Ich träumte davon, mich in dieses Wolkenbett hineinzuwerfen, von weichen Daunen umhüllt den leckeren Ribiselkuchen zu essen. Aber um Himmels Willen, hätte ich das getan, Frau Holzer hätte der Schlag getroffen!

„Wenn wir Menschen nicht durch die Süße des Seins belohnt werden, belohnen wir uns mit Süßigkeiten.“
Elisabeth von Samsonow
deutsche Philosophin und Künstlerin, lebt in Wien

Für mich als Philosophin sind Süßigkeiten die interessanteste Speisekategorie. Ich denke, dass Menschen so wild auf Süßigkeiten sind, weil in ihrer Süße ein Seinsversprechen liegt. Das Leben ist ein Geschenk, und von Geschenken sollte anzunehmen sein, dass sie etwas Schönes, Einzigartiges und Süßes sind. Nun ist das Geschenk „Leben“ aber so komponiert, dass es nur mit Unterbrechungen süß ist oder auch mal längere Zeit gar nicht, wie jetzt in diesem Lockdown. Wenn wir Menschen nicht durch die Süße des Seins belohnt werden, dann belohnen wir uns eben mit Süßigkeiten. 

Ich esse zwar nicht viel Süßes, verbinde damit aber viele Erinnerungen. Als ich klein war, hatten wir den Luxus, einen Konditor im Dorf zu haben, den Herrn Stingelhammer. Bei ihm gab es zu kaufen, was man so zu verschiedenen Anlässen an Süßem verschenken konnte, Nikoläuse, Osterhasen, Torten – all das stellte er selbst her. Wenn wir Schokoladenfiguren von ihm bekamen, bissen wir zuerst die mit Zuckerglasur bestrichenen Gesichter ab, denn seine Glasuren waren das Köstlichste! Ich sehe noch vor mir, wie ich in das Gesicht des Osterhasen und auch des Nikolaus beiße. Ein brutaler Akt könnte man sagen, aber eine schöne Erinnerung. 

Als ich meine Hochzeit in Bangladesch feierte, erlebte ich am eigenen Leibe den Brauch, dass die junge Braut von den Verwandten des Bräutigams mit Kuchen gefüttert werden muss. Das gilt als Liebesgeste und soll bedeuten: „Du bist uns jetzt für ewig lieb, schau, wir geben Dir Süßes in Hülle und Fülle!“ Ich stand also da und bekam ständig Kuchen in den Mund geschoben, manche Leute ließen sich dabei sogar fotografieren! Das war mir ein Gräuel, ein paar Mal wehrte ich mich sogar, das kam aber gar nicht gut an. Die Devise war nämlich: „Schnabel auf und rein mit dem Kuchen!“ Dieses Ereignis hat mir die Lust auf Torte für Jahrzehnte verdorben. 

Ich kann mich auch noch daran erinnern, dass ich in Bangladesch an jeder Straßenecke auf Zuckerrohrverkäufer traf. Zuckerrohr zu essen war eine richtige Beschäftigung – das ist nicht so, wie eine Praline zu naschen, die mit einem Bissen weg ist. Zuerst musste es weichgekaut werden, anschließend wurde der Zucker herausgezuzelt und dann die Fasern ausgespuckt. Obwohl es so eine einfache Süßigkeit ist, schmeckt sie wahnsinnig gut!

„Meine Mutter aß früher fast jeden Tag ein ganzes Glas Nutella.“
Jeanne Drach,
österreichische Podcasterin und Musikerin, lebt in Wien

Für das Album 11 Tracks (2018) meiner Band Kids N Cats habe ich zwei Songs geschrieben, in denen Süßigkeiten eine prominente Rolle spielen. In einem Lied mit dem Titel Austria geht es darum, dass ich nicht die Welt retten will, sondern mich einfach nur im Bett verkriechen und meine Schokolade essen möchte. Ein anderes Lied heißt Taiwan, darin singe ich über die köstlichen Sesame Buns, das sind Mochis, die mit einer süßen Sesammischung gefüllt sind. Diese Buns sind eine Exktase im Mund und eine Explosion im Bauch! Ich war einen Monat lang in Taiwan und habe sie jeden Tag gegessen. Es gibt sie zwar auch in Wien, aber die sind leider nicht so gut wie dort. 

Hier esse ich mindestens zweimal die Woche eine ganze Tafel Schokolade auf einmal und habe immer mindestens vier auf Lager. Meine Mutter aß früher fast jeden Tag ein ganzes Glas Nutella. Die Leidenschaft für Schokolade habe ich wohl von ihr geerbt. Zu Weihnachten bestellte sie immer Zaunerstollen aus Bad Ischl – das war für mich etwas ganz Edles und Wertvolles, dass es nur zu den Feiertagen gab. Ich durfte immer maximal zwei Stück davon essen, das war für mich der größte Luxus! Kürzlich habe ich entdeckt, dass es in Wien einen Shop gibt, der diese Süßigkeit verkauft, und bin fast ein bisschen enttäuscht, dass sie so leicht zu bekommen ist. 

„Was bei Süßem nicht fehlen darf? Der Kaffee!“

Iyad Abou Shahin,
Besitzer der syrischen Konditorei „Taybat Sweets
“                                                                                                                            

Ich bin Syrer, 2014 nach Wien gekommen und versorge die Wienerinnen seit 2016 mit über vierzig verschiedenen Sorten Baklava. Was bei Süßem nicht fehlen darf? Der Kaffee! In Syrien gibt es im Gegensatz zum klassischen Wiener Kaffee den Muntermacher mit Safran und Kardamom.

In Sachen Süßigkeiten ist mir in Österreich Apfelstrudel am liebsten, Schokolade mag ich gar nicht. Bei unseren syrischen Angeboten habe ich allerdings keine Vorliebe, ich esse alles und viel davon. Bevor die Kundinnen sie kaufen, muss ich ja alle probieren. Unsere Süßwaren bestehen im Gegensatz zu den europäischen hauptsächlich aus Nüssen: Cashews, Pistazien und Mandeln zieren unsere Regale. Neben in Zimt- und Jasmin-Wasser getränkten Datteln gibt es zahlreiche Leckereien, die weniger Kalorien haben, als man denkt, und kann daher figurbewusst schlemmen – das mögen die Österreicherinnen! 

Als syrischer Bäcker muss man genauso wie die österreichischen früh aufstehen. Unser Tag beginnt um sechs Uhr, damit auch alle Backwaren pünktlich um acht Uhr serviert werden können. In Wien funktionieren vegane Süßigkeiten und Süßes mit weniger Butter und Zucker besser als die zuckersüßen türkischen Baklavas. Zum Frühstück gibt’s bei uns Kunafa, eine Art süßer Käse, von dem ein Stück reicht, um satt zu werden. Im Sommer ist Pistazieneis beliebt, im Winter gibt’s auch mal Deftigeres mit Sahne und vieles auf Grießbasis.

„Meine Lieblingssüßigkeit ist ein doppelter Espresso ohne Zucker.“
Mieze Medusa,
österreichische Poetry-Slammerin

Ich halte es mit Süßigkeiten ähnlich wie mit Bier: Ich will damit Arbeitsplätze in meinem Bezirk sichern. Es gibt einen Heindl-Flagship-Store in der Thaliastraße – das ist eine von den Straßen in Wien, in denen es abwechselnd nach Mannerschnitten und Ottakringer Brauerei riecht, oder nach beidem gleichzeitig. Im diesem Geschäft bieten sie momentan fantastische Schokomaroni an, die sind, by the way, sogar vegan und nein, ich werde für dieses Label Dropping nicht bezahlt.

Man kann jedoch nicht immer in seinem Grätzl bleiben, man muss manchmal, man darf manchmal, in die große weite Welt hinaus. Die besten Scones meines Lebens habe ich in einer Marks & Spencer-Filiale in Shanghai gegessen. In China haben mein Partner Markus Köhle und ich damals sehr, sehr liebenswerten – und ein wenig verdutzten – Studierenden unsere Poetry-Slam-Texte vorgetragen. Wir waren kulinarisch ziemlich unerschrocken unterwegs und haben in den Restaurants random auf die Speisekarte gezeigt und gehofft, dass Wan-Tan-Suppe oder Chicken kommt. Aber Frühstück ohne irgendwas Brotähnliches? Nö! Also ab zu Marks & Spencer. In einem Seminar der „Postcolonial Studies“ kann man damit nicht angeben, das ist mir klar. Meine Lieblingssüßigkeit ist übrigens ein doppelter Espresso ohne Zucker. In Shanghai bin ich aber Schlange gestanden, um Backwaren im Pandadesign zu erstehen, because: Pandas!

„Unsere Geheimzutat ist Salz!“
Julia Kilarski,
Wiener Konditorin

Ich esse selbst gerne Süßes, daher kommt meine Begeisterung dafür. Meine Mutter und meine Oma haben immer wahnsinnig viel gebacken, die Leidenschaft für Naschereien liegt also in der Familie. In meiner Konditorei Crème de la Crème in der Josefstadt backen wir französische Süßigkeiten. Meine Begeisterung für die Pâtisserie begann, als ich ein halbes Jahr in Paris verbrachte. Die Konditoreien dort sind viel progressiver als in Österreich, es wird ganz viel Neues ausprobiert, sowohl optisch als auch geschmacklich, und Jahr für Jahr werden neue süße Kollektionen präsentiert. In Wien ruht man sich zu sehr auf Traditionen aus. Ich wollte frischen Wind in die Branche bringen. Ausnahmsweise verrate ich hier auch unsere Geheimzutat: Salz! Das verbessert den gesamten Geschmack einer Süßigkeit, eine Prise ist in jedem Keksteig ein Muss. Zu Beginn des ersten Lockdowns waren wir geschockt, dass wir zusperren mussten, haben dann aber gemerkt, dass sich viele Leute in dieser Zeit selbst oder gegenseitig eine Freude machen wollen, und Süßigkeiten dabei ganz weit oben stehen. Süßigkeiten mit Gelatine finde ich übrigens richtig grausig – ein gutes Backwerk muss locker und luftig sein und nicht schnittfest!

Yoshinori Niwa: yoshinoriniwa.com

Elisabeth von Samsonow: samsonow.net

Jeanne Drach: ohwow.eu

Mieze Medusa: miezemedusa.com

Julia Kilarski/Crème de la Crème: cremedelacreme.at


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