Der Kunst-Schaffner

Wien + Bratislava = eine komplizierte Liebesgeschichte

Bei TRAM geht es um Verbindung, Verbindung durch Kunst. Verbunden werden sollen die beiden Hauptstädte Europas, die räumlich gesehen am nähesten zusammenliegen und doch so weit voneinander entfernt sind: Wien und Bratislava. Zum leidenschaftlichen Paartherapeuten dieser beiden Metropolen des Ostens hat sich Juraj Čarný aufgeschwungen. Wir haben mit dem Kurator des Kunst-Zugs über die ambivalente Beziehung zwischen diesen beiden Hauptstädten gesprochen.

Was ist das TRAM-Projekt?

TRAM ist ein Kunst-Zug, der als Kulturzentrum und Galerie fungiert. Der ÖBB/ZSSK-Zug verkehrt täglich zwischen dem Wiener Hauptbahnhof und dem Hauptbahnhof in Bratislava. Das Projekt wurde vom österreichischen Botschafter in Bratislava, Helfried Carl, initiiert und ist von der historischen Bahn aus dem Jahr 1914 inspiriert – als die Menschen noch für einen Kaffee von Bratislava nach Wien fuhren. Das Projekt soll die beiden Städte wieder enger miteinander verbinden.

„1914 fuhren die Menschen noch für einen Kaffee von Bratislava nach Wien.“

Warum Kunst im Zug?

Öffentlicher Raum ist viel interessanter, um zeitgenössische Kunst zu präsentieren als klassische Galerien und Museen. Ich träume auch von Ausstellungen auf Flughäfen oder Booten. Der Zug ist ein Ort, an dem man sich wirklich auf sein Publikum konzentrieren kann. In Museen läuft das Publikum von Raum zu Raum. Ich finde, zeitgenössische Kunst braucht mehr Aufmerksamkeit, und im Zug ist diese Aufmerksamkeit gegeben, weil vielen während der Reise ohnehin langweilig ist. Deshalb kann man im Zug eine andere Form der Kommunikation mit dem Publikum schaffen als im klassischen Museum. Das ist für mich der spannendste Aspekt des Zugprojekts.

Was ist das Interessanteste, das Sie während des TRAM-Projekts erlebt haben?

Es gab so viele interessante Momente. Aber besonders überrascht hat mich die Reaktion des Publikums. Den Zug nutzen so viele Pendler, die während der Fahrt bloß auf ihre Handys oder Laptops starren. Wenn man eine Galerie betritt, betritt man auch eine völlig andere Art von Raum. Im Zug sind die Leute in dieser Form des Raumes gefangen; sie können den Zug nicht einfach verlassen, wann sie wollen, wie bei einer gewöhnlichen Galerie. Die Zugfahrt dauert eine Stunde, und wenn eine Performance oder ein Konzert stattfindet, muss das Publikum sitzen bleiben und sich das eben anschauen (lacht).

„Wenn ,Hyperloop‘ tatsächlich realisiert wird, kann man innerhalb von acht Minuten von Wien nach Bratislava fahren.“

Die Zugverbindung zwischen Wien und Bratislava wurde 1914 eröffnet. Wie hat sich die Beziehung zwischen Wien und Bratislava seit damals verändert?

1914 gehörte die Slowakei zu Ungarn. Wir waren ein Land. Deshalb waren wir viel enger miteinander verbunden als heute. Ich hoffe, dass wir es schaffen, an dieses Gefühl anzuknüpfen und die alte Einheit wieder zu neuem Leben zu erwecken. 1914 sollte die Zugverbindung Wien und Bratislava näher zusammenbringen. Damals dauerte die Fahrt zweieinhalb Stunden, was superschnell für diese Zeit war. Wenn „Hyperloop“ tatsächlich realisiert wird, kann man innerhalb von acht Minuten von Wien nach Bratislava fahren. Etwas, das wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Das würde die Beziehung zwischen den beiden Städten sicher erneut enorm verändern.

„Ich dachte immer, Wien sei nicht an Bratislava interessiert, aber tatsächlich interessiert sich Bratislava nicht für Wien.“

Wien und Bratislava trennen nur 60 km, aber kulturell sind sie so weit voneinander entfernt. Was erklärt diese Distanz? Was trennt die beiden Städte voneinander?

Es gibt historische Gründe, und es hat sehr viel damit zu tun, dass die großen Institutionen nicht miteinander kooperieren. Es fehlt die Motivation.

Sie haben mal gesagt, dass Sie immer dachten, Wien sei nicht an Bratislava interessiert, aber tatsächlich interessiere sich Bratislava nicht für Wien. Warum herrscht dieses gegenseitige Desinteresse?

Wenn ich Eröffnungen in Wien besuche, treffe ich nie irgendjemanden aus Bratislava. Es gibt zwar eine tolle Kunstszene in Wien, aber Bratislava profitiert überhaupt nicht davon, obwohl es eigentlich so naheliegend wäre. Eigentlich weiß ich nicht, wieso wir uns gegenseitig nicht mehr Aufmerksamkeit schenken.

„Der Westen hat rein gar nichts vom Osten gelernt.“

Was kann Bratislava von Wien lernen?

Ich glaube, wir können eine Menge voneinander lernen. Nach der Revolution 1989 hat sich der Osten den Kapitalismus, die Kultur, die Produkte und Systeme des Westens angeeignet, brachte sich aber selbst nicht mit eigenen einflussreichen Ideen, Werten oder seiner Philosophie ein, was für den Westen nützlich gewesen wäre. Man glaubte, der Osten könne dem Westen etwas geben, aber tatsächlich hat der Westen rein gar nichts vom Osten gelernt. Das ist ein Problem, dessen wir uns nicht bewusst sind. Kultureller Austausch muss in beide Richtungen erfolgen.

„Jeder hat die Verantwortung, zu einem besseren Leben beizutragen.“

Stefan Zweig schrieb einst, dass nur kultureller Austausch und Zusammenarbeit Europa vor einem schrecklichen Weltkrieg bewahren können. Glauben Sie, Kunst kann Krieg verhindern?

Wir leben in einem Zeitalter der hybriden Kriege, die von künstlichen Intelligenzen geführt werden, da kann ich als Kurator und Kulturmanager nicht einfach in meiner Galerie bleiben und nur Ausstellungen von schönen Bildern organisieren. Jeder hat die Verantwortung, zu einem besseren Leben beizutragen. All die Ereignisse der letzten Jahre treiben mich an, aktiv zu werden. Ich möchte kein politischer Aktivist werden, aber ich kann mit Künstlern kooperieren. Und Kunst kann dabei helfen zu verstehen, wie wir leben. Ich glaube, es gibt viele Möglichkeiten, die Welt vor Kriegen zu bewahren. Kunst ist sicher nur eine von vielen.

„Ich glaube daran, dass die Slowakei eine Insel werden kann, in der die zentraleuropäischen Nazi-Tendenzen gestoppt werden können.“

Letztes Jahr wurden der slowakische Investigativjournalist Ján Kuciak und dessen Verlobte ermordet. Ist die Kunst- und Kulturszene in der Slowakei frei?

Wir leben im Frieden. Dass in der Slowakei jemand aus politischen Gründen ermordet werden könnte, hat wirklich niemand erwartet und uns alle erschüttert. Die Ermordung des jungen Kuciak und seiner Verlobten hat einen Wandel initiiert, der sich auch in der Wahl niederschlägt. Wir haben eine Generation von jungen Politikern, die wirklich versuchen, die politische Sprache zu verändern. Die Menschen verstehen, dass wir etwas tun müssen und nicht einfach passiv bleiben können. Sie fangen an, mehr nachzudenken, und erkennen, dass sie gegen den Populismus kämpfen müssen. Ich glaube daran, dass die Slowakei eine Insel werden kann, in der die Nazi-Tendenzen, die in allen zentraleuropäischen Ländern ein Problem sind,  gestoppt werden können.

„Das inspiriert mich an Wien: Die Möglichkeit, dass Strukturen auf lange Sicht hin wirklich geändert werden können.“

Was begeistert Sie an Wien?

Wien ist mehr als der Titel „lebenswerteste Stadt der Welt“. Jedes Mal, wenn ich Wien besuche, lerne ich etwas. Ich träume von einer intelligenten Stadt, wie Wien eine ist. Ein gutes Beispiel ist die Mariahilfer Straße. Das Konzept, dass die Autos Rücksicht auf die Fußgänger nehmen, funktioniert super. Aber solche Projekte müssen lange geplant werden, und in der Slowakei ist das nicht möglich, weil die Regierungen so populistisch und nur so kurz an der Macht sind. Das inspiriert mich an Wien: Die Möglichkeit, dass Strukturen auf lange Sicht hin wirklich geändert werden können. Das ist etwas, was Bratislava von Wien lernen kann.

„Bratislava war schon immer eine Stadt, die mir Kraft raubt.“

Verändert sich in Bratislava weniger als in Wien?

In Bratislava verändern sich Strukturen nur sehr langsam und wenn, dann basieren Veränderungen nicht auf guten Konzepten, sondern auf einzelnen Personen. Deshalb haben diese Veränderungen nicht so eine positive Energie wie in Wien. Ich finde Wien hat überhaupt eine sehr gute Energie. Dahingegen war Bratislava schon immer eine Stadt, die mir Kraft raubt. Aber seit letztem Monat, als der Architekt Matúš Vallo die Bürgermeisterwahl gewann, hat sich die Situation sehr geändert. Seine Strategie zur Veränderung von Bratislava (genannt „Plan B“) basiert auf einem starken Konzept, das in Zusammenarbeit mit mehr als 70 Experten entwickelt wurde, und ich glaube, dass dies auch eine neue Dimension in der Zusammenarbeit zwischen Wien und Bratislava eröffnen wird.

„Wie kann man Wien mit Österreich und Bratislava mit der Slowakei verbinden?“

Welche Zukunft prophezeien Sie der Beziehung zwischen Wien und Bratislava? Was ist Ihre Utopie?

Eine meiner Utopien wurde bereits realisiert: Das Twin-City-Projekt. Der Twin City Liner ist ein Schiff, das über die Donau zwischen Wien und Bratislava fährt. Das Konzept war, die beiden Hauptstädte, die doch eigentlich so nah beieinanderliegen, wirklich zu verbinden. Meine Utopie wäre eine viel engere Beziehung der beiden Städte zueinander. Aber Wien ist eine andere Welt als der Rest von Österreich, und genauso verhält es sich auch mit Bratislava. Für mich stellt sich daher nicht nur die Frage, wie man Wien und Bratislava miteinander verbinden kann, sondern insbesondere auch, wie man Wien mit Österreich und Bratislava mit der Slowakei verbinden kann. Wenn Hauptstädte nicht mit ihrem Land verbunden sind, verursacht das Probleme. Die Bevölkerung der Hauptstadt wählt komplett anders als der Rest des Landes. Das führt zu großen Spaltungen und Kämpfen innerhalb eines Landes.

Und was ist Ihre Dystopie?

Das schrecklichste Szenario wäre, wenn wir wirklich die Grenzen schließen und überhaupt nicht mehr zusammenarbeiten. Das ist der Grund, warum Kulturkooperationen so wichtig sind. Das bringt Leute einander näher. Dann zählt nicht, was Populisten tun. Selbst wenn die Grenze geschlossen würden, könnten wir immer noch Freunde bleiben und miteinander kooperieren. 

„Mein Traum ist, dass Wien zum Führerin aller osteuropäischen Länder wird.“

Träumen Sie von 1914, als Wien und Bratislava noch eine Stadt waren?

Man muss sich zuerst fragen, was es bedeutet, eine Stadt zu sein: Meint man technisch gesehen eine Stadt – oder eine Stadt in unseren Köpfen? Wenn Wien und Bratislava tatsächlich durch diesen achtminütigen Hochgeschwindigkeitszug (Hyperloop) miteinander verbunden werden, dann wird das sicher enorm viel ändern. Aber in Wien gibt es bis heute noch keine größere Institution, die sich auf Zentralosteuropa fokussiert. Das ist etwas, dem sich Wien in Zukunft definitiv stellen muss. Denn bis jetzt ist Wien eindeutig eine rein zentraleuropäische Stadt, obwohl Wien kulturell auch eine Hauptstadt des Ostens ist. Doch keine Institution nutzt dieses Potenzial. Mein Traum ist, dass Wien zur Führerin aller osteuropäischen Länder wird.

Juraj Čarný ist ein international gefragter Kurator, dem die Vernetzung von Kunstszenen verschiedener Länder ein besonderes Anliegen ist. Er ist Gründungsdirektor der Kunsthalle Bratislava, Präsident von AICA Slowakei, gründete die erste Biennale für zeitgenössische Kunst in Bratislava, das Otis Laubert Museum sowie die private gemeinnützige Galerie SPACE, die sich dem internationalen Austausch verpflichtet hat und folgende internationale Networking-Projekte initiierte: Billboart Gallery Europe, Crazycurators Biennale, SPACE Residency Lab und die Wandergalerie nomadSPACE. Čarný unterrichtet zudem Projektmanagement und Marketing für Künstler an der Akademie für bildende Kunst und Design in Bratislava. 

TRAM fährt noch bis zum 16.01.2019. Alle weiteren Infos zum TRAM-Projekt hier!

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